Im Licht von Apfelbäumen | Roman
er plötzlich; er hätte sie leicht überwältigen können. Und ihre ganze Haltung – fast lässig, als hätten sie alle Zeit der Welt – machte ihn fuchsteufelswild.
Della, sagte er mit bebender Stimme. Ich werde jetzt nicht mit dir diskutieren. Du gehst sofort in diesen Schrank …
Sie blickte ihn an wie aus weiter Entfernung.
Ich kann hier nicht weg, sagte sie. Und dann ausdrücklich:
Ich will hier nicht weg …
Wie kannst du nicht wegwollen?, fragte er. Seine Stimme war leise vor Erstaunen. Wie war es möglich, dass sie sich ihm widersetzte? Die krasse Offensichtlichkeit des Fehlers, den sie gerade beging, raubte ihm den Verstand. Schweigend, hilflos, stand er da.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, dann wandte sie sich ab. Sie zögerte. Die Wärter werden bald kommen, sagte sie mit monotoner Stimme.
Er starrte auf die weiß gestrichenen Bretter über dem Schrank; ein schräger Lichtstrahl brachte die Risse, Blasen und abblätternden Farbplacken zum Vorschein.
Ich wollte dich aus der Haft holen, sagte er. Ich wollte dir helfen. Aber ich wollte auch, dass du … für sie da bist. Wenn sie älter ist. Ich wollte, dass du …
Aber er sprach den Satz nicht zu Ende.
Ein Windstoß vom See fuhr ihm ins Haar, unter die Kleider. Sie würde nicht in den Schrank steigen. Und sie eilten auch nicht zu der Menschenmenge am Strand zurück, um sich zu retten. Als Talmadge schließlich klar wurde, dass sie das hätten tun sollen – dass er, nachdem sie sich seinem Plan verweigert hatte, auf der Stelle mit ihr hätte dorthinrennen sollen –, kamen drei Wärter an Deck gestürmt und ergriffen sie beide.
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V
Als Talmadge kam, um mit ihr zum See hinunterzugehen, dachte Della, er wolle sie damit zu besserem Benehmen motivieren. Sie hatten vor, sie nach Walla Walla zu verlegen – jedenfalls hatten sie das gesagt –, aber sie glaubte nur halb daran. Sie konnte sich das Gespräch zwischen Talmadge und dem Amtsrichter vorstellen: Wenn Della sich bessere, wenn sie ihre Haltung deutlich verändere – sich entschuldige und vielleicht ihre Beweggründe erkläre, also auch ihre Vergangenheit offenlege –, dann würde der Amtsrichter womöglich erwägen, sie woandershin zu schicken. Oder sie – für den Fall, dass Michaelson verlegt wurde – hierzubehalten. Verglichen mit Walla Walla schien Chelan nicht so schlecht, nicht ganz so entlegen. Dieser Ausflug an den See, dachte Della, war für Talmadge eine Gelegenheit, sie zu bekehren, damit sie dem Amtsrichter ihre Geschichte erzählte und um Milde bat.
Den Wärter, der ihnen zugeteilt wurde – Wallach –, hatte sie noch nie gesehen. Vor Kurzem war eine Gruppe neuer Männer zur Ausbildung in die Haftanstalt gekommen. Verwunderte, ernste, neugierige Gesichter spähten zu den Essenszeiten zu ihr herein, grüßten manchmal zaghaft durch die Stäbe hindurch. Sie wussten alle, wer sie war und was sie getan hatte, aber Della scherte sich nicht um sie. Bemühte sich nicht, ihre Namen zu behalten oder herauszufinden, wie sie ihr nützlich sein könnten. Höchstwahrscheinlich würde sie sie nach Ablauf der Woche nie wiedersehen, sagte sie sich. Jetzt zählte nur ihr Bündnis mit Frederick, das unverzichtbar für sie war.
Sie musste sich in Erinnerung rufen, dass es wirklich und wahrhaftig geschehen würde: Ende der Woche würde Frederick ihre Zelle aufschließen, und sie würde zu Michaelson gehen und ihn töten.
Aber bis dahin waren es noch fünf Tage.
Es war schön, am Strand zu sein, schön, mal aus der Zelle herauszukommen. Und Talmadge hatte ihr im Wirtshaus ein Essen spendiert, ihr Zigaretten gekauft. Sie dachte schon, alles sei in Ordnung, doch dann begann er, sich merkwürdig zu benehmen und mit ihr über Michaelson zu reden. Außerdem sah er sich immer wieder um, als wartete er auf jemanden; einmal winkte er sogar irgendwem zu. Doch als sie ihn fragte, was er da mache, gab er ihr keine Antwort. Plötzlich der Schuss und das Gedränge, als alle gleichzeitig den Strand hinunterliefen, um zu sehen, was da los war. Wallach hatte ihr Handschellen angelegt, und sie und Talmadge waren hinter ihm hergegangen. Man konnte kaum etwas sehen bei all den vielen Menschen. Talmadge hatte ihr gesagt, sie solle ihm folgen. Widerstrebend hatte sie gehorcht, war ihm zu dem Dampfschiff-Lagerhaus gefolgt. Er wollte, dass sie an Deck ging. Sie hatte verwirrt gezögert, doch da kaufte er schon Fahrkarten für sie. Auf dem Schiff hatte er sie zu einem Schrank geführt und
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