Im Licht von Apfelbäumen | Roman
trinken. Selbst im Schlaf horchte sie weiter. Obwohl ihre Hand unter dem Kissen auf dem Heft ihres blankgezogenen Jagdmessers lag, hatte sie keine Angst. Sie wusste, worauf sie horchen musste, und die Atmosphäre war nicht so, dass sie zu ihr kommen würden. Kurz davor, aber nicht ganz. Nicht so kurz davor, dass sie nicht würde schlafen können. Morgen würde sie die Lage neu bewerten müssen. Aber heute Nacht konnte sie sich ausruhen.
Was hast du gelernt?, fragte Talmadge Angelene, wenn sie wieder auf der Plantage war. Sie wohnte jetzt drei Tage in der Woche bei Caroline Middey, weil die Schule zu weit von der Plantage entfernt war, um jeden Tag hin- und zurückzufahren. Sie saßen am Tisch und aßen, und Angelene erzählte ihm alles, was sie sich gemerkt hatte. Die Daten von Schlachten des Unabhängigkeitskrieges, das Einmaleins, warum so viel Asche im Boden war. Nach dem Essen lernte sie am Tisch, während Talmadge auf seinem Stuhl in der Ecke saß und in seine Almanache schaute. Manchmal blieb er nur ganz kurz dabei, ehe er wieder aufstand und hinausging, um – ja, um was zu tun, vielleicht die Obstgärten abzulaufen. Das machte er mitunter, wenn die schwere Arbeitszeit kurz bevorstand oder wenn ihn etwas beunruhigte oder seine Verdauung nicht gut funktionierte. Oft berührte er sie dann im Vorbeigehen am Kopf, als wollte er sagen: Mach weiter, ich gehe nicht weit weg, lern einfach weiter. Eine Art zärtlicher Stolz lag darin, der ihr das Gefühl gab, als tue sie etwas Wichtiges, etwas, das ihn tief beglückte.
Della und die Männer jagten auf einem neuen Gipfel, und die Jagd war gut. Die Männer schienen hochkonzentriert, obwohl sie in der Nacht zuvor eine Menge getrunken hatten. Sie redeten nicht viel, und die Pferde einzufangen, alle wie ein einziger Körper, war eine Art Tanz gewesen. Es war mit Abstand einer der besten Jagdtage. Und doch – als sie einen Ort gefunden hatten, wo sie kampieren konnten, am Ufer eines Baches, über den sich die Birken beugten, dicht an dicht, die Männer ruhiger und reservierter als am Vorabend, wusste sie, dass es nicht ging. Sie hatte kaum ihren Schlafsack ausgerollt und ihre Dose Bohnen herausgeholt, als ihr klar wurde, dass sie nicht einmal mehr ihr Essen würde zubereiten können. Dabei sahen die Männer gar nicht zu ihr hin. Wie üblich hatten manche schon ein Feuer gemacht, andere waren zum Waschen an den Fluss gegangen. Sie führte ihr Pferd ein Stück flussaufwärts, um den Anschein zu erwecken, als wollte sie es tiefer hineinwaten und baden lassen. Dann lief sie einfach weiter. Niemand folgte ihr. Sie lief, bis sie die Männer nicht mehr hören konnte und der Wald sich schweigend hinter ihr schloss. Sie würden sich wundern, vielleicht sogar nach ihr suchen, und sie wären stinksauer auf sie. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie konnte das alte, vertraute Gefühl spüren, das unter dem Blätterdach der Bäume seinen Platz gefunden hatte, und sie war in tiefster Seele sicher, dass sie schon einmal dort gewesen war. Sie hatte ihrem eigenen Schicksal entfliehen müssen.
Sie wusste so ungefähr, wo sie war. In dieser Nacht würde sie nicht mehr weit kommen, dafür aber vor Morgengrauen aufstehen und sich auf den Weg bergab machen. Sie wusste, wo die Männer entlangritten, und würde einen weiten Bogen um sie schlagen. Als sie sich an diesem Abend schlafen legte, hatte sie Angst, obwohl sie wusste, dass sie ihren Übergriffen entronnen war. Manchmal noch befiel sie diese scharfkantige, vagabundierende Angst. Sie sagte sich, dass sie in Sicherheit war. Sie konnte die Sterne nicht sehen; die Bäume über ihr waren zu dicht. Sie horchte auf ihr Pferd in der Dunkelheit, rief nach ihm.
Die Stille und Finsternis des Waldes waren außergewöhnlich.
»Und den folgenden Tag, als es anfing, dunkel zu werden«, las Angelene vor, »ging er zu dem Turm und rief: Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter. Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf. Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr hereinkam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fing an, ganz freundlich mit ihr zu reden, und erzählte ihr, dass von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, dass es ihm keine Ruhe gelassen und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie ihn zum Manne nehmen wolle, und sie sah, dass er jung und schön war, so dachte sie: Der wird mich lieber haben als die
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