Im Licht von Apfelbäumen | Roman
Liebe – und wie ähnlich schien sie der Wissenschaft und wie verschieden von ihr – war das Lesen. Sobald sie begriff, dass die Zeichen auf der Seite etwas bedeuteten – dass sie zu Worten verknüpft werden konnten, dann zu Sätzen und Abschnitten –, verlangte es sie nach dem ganzen System. Es kam ihr wie ein neues Universum vor. Und das war es auch. Alles öffnete sich. Manche Geschichten sollten belehren, andere unterhalten. Und wieder andere waren etwas gänzlich Eigenes. Das erklärte ihr nicht die junge Lehrerin, Angelene fand es selbst heraus, im ersten Schuljahr, als ein Mann zu Besuch kam und ihnen ein
Gedicht
aus einem dicken Band vorlas – es schien geschrieben worden zu sein, um eine Art Geheimnis weiterzugeben, ja mehr noch: ein Geheimnis über sie selbst. Angelene war verzaubert. Was gab es alles für sie zu entdecken? Welche Geheimnisse hielt die Welt bereit? Welche Geheimnisse würden durch die Erde ans Tageslicht kommen und welche durch Worte?
Im Frühjahr 1911 ritt Della mit einem Trupp aus Pendleton, Oregon, in die Sawtooths. Es waren nicht Clees Leute – sie hatte inzwischen Arbeit in anderen Trupps gefunden. Oft, wie auch in diesem Fall, mussten ihnen Männer fehlen, damit sie bereit waren, sie bei sich aufzunehmen; doch trotz der allgemeinen Skepsis ihr gegenüber war sie in den letzten paar Jahren meist mit Männern zusammen gewesen, die in Ordnung waren. Anders gesagt: mit Männern, die sie mehr oder weniger in Ruhe ließen.
Mit dieser Gruppe in den Sawtooths war sie seit einer Woche unterwegs. Sie jagten Pferde in den höheren Gebirgslagen. Einige Männer hatten am Morgen wieder hinunterreiten wollen, sie meinten, sie hätten doch genügend Pferde, um den Boss zufriedenzustellen, aber andere waren damit nicht einverstanden gewesen, schließlich hätten sie dem Boss mehr Pferde versprochen, als sie bisher gefangen hatten. Am Ende einigte man sich, noch ein paar Tage weiterzumachen. Doch es ließ sich schwer an; obwohl schon Mai war, hatte es zwei Tage zuvor, am frühen Morgen, geschneit. Diese Männer gehörten zu den rauesten, mit denen Della bisher unterwegs gewesen war – laut an den Abenden, achtlos mit Worten und Händen. Der eine oder andere hatte sie schon mal angefasst, doch niemand hatte sie misshandelt, und so war sie bei ihnen geblieben. Sie wollte durchhalten, wegen des Geldes natürlich, aber auch wegen der Pferde, der großen Jagd in den kommenden Tagen.
Nach einer Woche erreichten sie am späten Nachmittag, kurz vor Dämmerung, ein Lager. Einige Männer begannen, ihr Abendessen zuzubereiten, während andere zum Fluss gingen, um sich zu waschen. Das Lager befand sich in einem Tal hoch oben in den Bergen, und als die Sonne unterging, leuchteten die schneebedeckten Gipfel in der Ferne. Es herrschte eine tiefe Stille, die die Geräusche der Männer und Pferde blechern klingen ließ. Das ganze Tal umschloss sie und hüllte sie in Ferne.
Della ging weder mit den Männern zum Fluss, noch machte sie sofort ein Feuer. Sie setzte sich auf ihren Schlafsack und blickte über das dunkler werdende Tal. Und wo würde sie hingehen, was würde sie tun? Sie aß einen Brotkanten, unglaublich hart, den sie in ihrer Satteltasche gefunden hatte. Ihre Hände schwarz vor Dreck. Der Schweiß, der auf ihrem Körper trocknete, ließ sie frösteln. Als die Dunkelheit hereinbrach, hockten die Männer unten beisammen – sie saß ein Stück weiter oben am Hang –, aßen und lachten wiehernd. Manche waren noch sauer über den Entschluss, weiter in die Berge hinaufzureiten; das konnte jeden Moment kippen. Sie achtete unablässig auf die Geräusche der Männer, besondere Stimmlagen, die bedeuten würden, dass sie über Frauen sprachen, über sie. Die Männer waren müde und einsam, und sie waren gereizt.
Sie zündete ein Feuer an und erhitzte Bohnen. Während sie wartete, löste sich eine Gestalt aus dem Lager der Männer und kam den Hang herauf. Er ging nur ein paar Schritte, hielt inne und machte wieder kehrt. So ist es gut, dachte sie. So ist es gut. Ihr Arm war ruhig, als sie die Dose Bohnen mit einem Lappen zwischen ihre Knie beförderte. Vorsichtig begann sie zu essen. Das Lager immer im Blick. Sie verbrannte sich den Mund und fluchte. Als sie aufgegessen hatte, wischte sie die leere Dose mit dem Lappen aus und verstaute sie in ihrer Satteltasche. Trat das Feuer aus. Legte sich in ihren Schlafsack.
Mit geschlossenen Augen horchte sie auf die Männer. Sie hatten angefangen zu
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