Im Licht von Apfelbäumen | Roman
Monat. Sie hat gesagt, sie hätte … jemanden umgebracht. Irgendwo in der Gegend von Seattle. In einem Holzfällerlager.
Talmadge blieb stehen. Das Wasser rauschte laut in seinen Ohren, und die helle Sonne erleuchtete all die verborgenen, all die vielfältigen Muster auf dem Feld. Nein, sie konnte niemanden umgebracht haben. Das stimmte nicht. Und doch hatte der Richter es gesagt, und das Mädchen hatte es gestanden. Vielleicht hatte sie sich zum Schlechteren gewendet; in seiner Vorstellung hatte sie in all den Jahren, seit sie fort war, diverse Missetaten begangen, aber so etwas doch nicht. Nichts, außer sich selbst zu töten, war schlimmer als das. Sie hatte jemanden umgebracht. Er hätte nicht stehen bleiben sollen, im Ruhezustand überwältigten ihn seine Gedanken. Er setzte sich wieder in Bewegung, und der Richter folgte ihm.
Jemanden umgebracht?, fragte Talmadge. Wenn es ein Mann war, dachte er, und sie sich nur gewehrt hatte …
Es ist nicht ganz klar, sagte der Richter. Das ist das Merkwürdige daran … Sie behauptet, sie habe jemanden umgebracht, aber es gibt dafür keinen Beweis. Oder noch nicht. Vielleicht hat sie den Mann nur verletzt. Die Behörden … gehen dem gerade nach.
Sie wissen nicht, ob sie jemanden umgebracht hat oder nicht?, fragte Talmadge ungläubig. Sie
könnte
ihn verletzt haben? Dann: Was hat das alles zu bedeuten? Er war selbst überrascht, als er Ärger in seiner Stimme hörte.
Der Richter schüttelte den Kopf. Anscheinend hat sie in einem Holzfällerlager gearbeitet und ist eines Abends mit den Männern aneinandergeraten. Sie haben alle Karten gespielt … getrunken wurde auch … und einer von ihnen hat ihr wohl vorgeworfen, sie würde betrügen, und da ist sie wütend geworden und hat mit einer zerbrochenen Flasche zugestoßen …
Talmadge blickte auf den Fluss. Er wollte nicht an die zerbrochene Flasche denken. Er wollte nicht daran denken, dass sie Karten spielte, sich mit solchen Männern abgab. Aber hatte er es nicht zugelassen? Was hatte er da getan? Hatte er überhaupt nachgedacht?
Er wandte sich dem Richter zu.
Geht es ihr gut? Ich meine …
Nach kurzem Schweigen sagte der Richter: Ich glaube, es geht ihr gut, Talmadge, körperlich jedenfalls. Und angeblich ist sie auch bei vollem Verstand …
Bei vollem Verstand, dachte Talmadge. Aber was hieß das?
Er betrachtete den Richter, der höflich den Blick abgewandt hatte und auf den Fluss schaute.
Möchten Sie zum Abendessen zu Caroline Middey kommen?, fragte Talmadge nach einer Weile. Sie hätte bestimmt nichts dagegen. Wir könnten … uns noch weiter unterhalten.
Der Richter schüttelte den Kopf. Meine Schwester erwartet mich. Talmadge …
Sie sahen einander zaghaft an.
Es tut mir leid, sagte der Richter.
Talmadge senkte den Blick, lauter zusammenhanglose, wirre Gedanken im Kopf, und nickte.
Auf dem Rückweg über das Feld spürte Talmadge das neue Wissen in sich: Das Mädchen saß hinter Gittern. Er hatte das Gefühl, als liefen sie ein Gefälle hinunter, spürte einen dumpfen Schmerz in seinem Brustbein, es mochte Kummer sein. Um seine wachsende Beklemmung zu verbergen, zupfte er an seiner Hutkrempe.
Wie lange ist sie schon …
Dort in der Haftanstalt? Erst einen Monat ungefähr.
Und – wie lange muss sie dableiben?
Das hängt davon ab, was sie herausfinden, sagte der Richter. Fürs Erste behalten sie sie dort.
Wenn es keinen Beweis für irgendein Vergehen gab, dachte Talmadge, war das nicht unrechtmäßig? Er sagte: Dürfen die das denn?
Der Richter zuckte mit den Schultern. Offenbar ist es ihr lieber so …
Talmadge nahm den Hut ab und schlug sich damit auf den Oberschenkel. Es ist ihr lieber so? Wie konnte das irgendwem lieber sein? Er setzte den Hut wieder auf und sagte: Vielen Dank, dass Sie das für mich rausgefunden haben …
Keine Ursache, sagte der Richter. Ich wünschte nur, ich hätte bessere Nachrichten für Sie.
Am Abend, nachdem Angelene schlafen gegangen war, erzählte Talmadge Caroline Middey, was der Richter ihm von Della berichtet hatte. Trotz der Kälte saßen sie auf der Veranda, mit Decken über den Beinen. Caroline Middey hatte ihr Strickzeug mit nach draußen genommen, doch sobald er anfing zu erzählen, ließ sie die langen Nadeln und den Haufen Wollgarn in ihrem Schoß liegen und schaukelte, den Blick in die Dunkelheit gerichtet, auf ihrem Stuhl.
Du lieber Gott, sagte sie. Sie sitzt im Gefängnis? Im Gefängnis?
In Untersuchungshaft, korrigierte er sie.
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