Im Mond des Raben
Großvater ihm eingeredet hatte, Raben brächten Unglück.« Barrs Stimme war ganz schroff vor Empörung. »Das einzig Unglückliche an diesem Raben heute war, dass er ausgerechnet dort am Himmel flog, wo ein dummer Junge ihn sehen konnte.«
»Dann wurde das in Eurem Clan also nicht über Raben gelehrt?« Vericas Stimme hatte einen neutralen Ton.
»Was? Dass sie Unglück bringen?«, fragte er, als könnte er noch immer fast nicht glauben, dass jemand so denken könnte.
Was für Sabrine so völlig unerwartet kam, dass sie nicht wusste, wie sie Barrs Einstellung mit dem Bild in Einklang bringen sollte, das sie sich von Faol-Kriegern gemacht hatte.
»Ja.«
»Nein. Jeder Sinclair weiß, dass alle Tiere notwendig sind, um unsere Welt im Gleichgewicht zu halten.« Er gab ein angewidertes Geräusch von sich. »Und Talorc, unser … ihr Laird, hätte jeden zum Heiler geschickt, der behauptet hätte, ein Jäger solle dem Aberglauben mehr Aufmerksamkeit schenken als der Jagd.«
Verica runzelte die Stirn. »Wirklich?«
»Ich lüge nicht«, erwiderte er hochmütig.
»Aber Ihr habt dem Jungen draußen gesagt, ein wildes Tier hätte mich angegriffen und mir meine Kleider weggenommen«, wandte Sabrine ein.
»Wir wissen nicht, ob vielleicht nicht genau das geschehen ist.«
»Also war es keine Lüge?«, beharrte sie, weil das ganze Gespräch über ihre Kenntnisse der Wölfe weit hinausging.
Barr zuckte mit den Schultern. »Lügen ist eine völlig andere Sache, als es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, solange es niemandem schadet.«
»Ihr braucht ein Plaid!«, entfuhr es Sabrine, weil die Nähe seines nackten Körpers alles andere überschattete und ihr die Konzentration erschwerte.
»Wieso? Gefalle ich Euch nicht?«
»Ich glaube, Ihr gefallt ihr zu sehr«, meinte Verica schmunzelnd. »Ich werde meinen Korb mit dem Verbandszeug holen.« Sie knickste kurz und verließ den Raum.
Ganz allein mit Barr, empfand Sabrine plötzlich das Zimmer, das ihr vorher groß erschienen war, als erdrückend klein.
Er setzte sich zu ihr aufs Bett und zog dann langsam an dem Plaid, das er ihr vorher überlassen hatte.
Entsetzt griff sie danach und hielt es fest. »Was fällt Euch ein?«
»Verica kann Eure Verletzungen nicht behandeln, wenn sie nicht an sie herankommt.«
»Ich werde das Plaid abnehmen, sobald sie wieder da ist.«
»Im Wald wart Ihr nicht so schamhaft.«
»Da hatte ich keine Wahl.«
»Ach, nun ziert Euch nicht, Sabrine! Ich habe Euren exquisiten Körper bereits gesehen. Was macht es da schon aus, wenn ich ihn noch einmal zu Gesicht bekomme?«
»Ach ja? Glaubt Ihr, Ihr könntet mich mit Beleidigungen überreden?« Aber war es eine Beleidigung? Er sagte, er fände ihren Körper exquisit. Doch sein Duft hatte ihr verraten, dass er sie in sexueller Hinsicht reizvoll fand, was nicht das Gleiche war.
»Das war keine Beleidigung.«
Vielleicht war das nicht einmal gelogen. »Dreht Euch um! Dann ziehe ich mich aus und lege mich unter die Decke.«
Sie rechnete damit, dass er sich weigern würde, doch er erhob sich und wandte ihr den Rücken zu. Sabrine nutzte den Moment und machte kurzen Prozess mit dem inzwischen blutbefleckten Plaid, bevor sie unter die Decke schlüpfte.
Die Wolle war die weichste, die sie je berührt hatte, und sie hatte auch andere Farben als die des Donegal’schen Plaids. Sabrine erinnerte sich an etwas, das Verica gesagt hatte: »Gehört Ihr einem anderen Clan an?«, fragte sie Barr neugierig.
Das würde erklären, warum er Laird war, obwohl die Spione der Éan von einem Mann mit einem anderen Namen berichtet hatten.
»Aye, ich bin ein geborener Sinclair.«
»Aber Ihr tragt das Armband des Lairds der Donegals.«
Verica kam zurück und brachte eine große Schüssel dampfend heißen Wassers mit. »Das ist so, weil Schottlands König und unserer früherer Clan-Chef Rowland « – sie spie den Namen förmlich aus – »es für angebracht hielten, den rechtmäßigen Platz meines Bruders einem Krieger eines anderen Clans zu geben.« Ein Mädchen kam hinter Verica herein und schleppte einen Korb, der halb so groß war wie es selbst.
»Ich bereite deinen Bruder nur darauf vor, die ihm zustehende Position zu übernehmen, wenn er die Volljährigkeit erreicht«, entgegnete Barr und legte mit schnellen, geschickten Bewegungen ein Plaid an.
»Und wann wird das sein?« Verica stemmte die Hände in die Hüften und blickte ihrem derzeitigen Laird fest in die Augen. »Wenn er Großvater ist?«
Die Kleine
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