Im Morgengrauen
ließ Yannick, vor allem aber Manuel schlafen. Der Tag am Strand wurde viel schöner, als vermutet. Große Mädchen, wie sie waren, demonstrierten Marie und Camille ihre Unabhängigkeit, indem sie sich ein Stück weiter weg niederließen. Sie gesellten sich nur zwei Mal zu uns: für das Picknick um die Mittagszeit, als der Hunger sie packte, und beim letzten Badegang, bei dem sie Yannicks Schulter als Sprungbrett entdeckten. Gut, dass ihnen das nicht früher eingefallen war, sonst hätte er keine ruhige Minute im Wasser gehabt. Trotz der Entfernung, die am Strand zwischen uns lag, fühlte ich mich oft beobachtet. Ständig kicherten die Mädchen. Aber nichts konnte mich erschüttern, Yannicks Gelassenheit wirkte auf mich wie ein Beruhigungsmittel.
An diesem Abend fand ein volkstümliches Fest in einem Nachbardorf statt. Glücklicherweise hatte meine Großmutter Lust hinzugehen, sodass mein Vater sie und Marie ausführte. So kam es, dass Yannick und ich das ganze Haus beziehungsweise das Wohnzimmer für uns allein hatten. Yannick legte eine alte Platte von Bernard Lavilliers auf, die
Live Tour 80.
Er musste am ersten Abend gemerkt haben, dass ich sie in die Hand genommen hatte. Wann hatte ich sie zuletzt gehört? Vor Jahren. Sie erinnerte mich an meine Kindheit, an meine Mutter. Ich sah uns
Stand the Ghetto
singen. Als
Capoïera
ertönte, konnte ich meine Tränen nicht unterdrücken. Was mochte wohl dieses Lied für eine Bedeutung gehabt haben für eine Frau, die gleichermaßen schwarzer Panther, Tänzerin, Akrobatin und womöglich Kämpferin war?
Nur noch vierundzwanzig Stunden bis zu meinem großen Tag. Ich hatte Lust, auf den Markt zu gehen, der jeden Freitag stattfand und sich im Sommer auf fast zwei Kilometer erstreckte.
Yannick stürzte sich auf alle Kleiderstände und entdeckte schließlich ein Kleidchen mit einem Leopardenmuster. Keine Frage, es war schön … schön auffallend, schön sexy, schön aufreizend. Viel zu kurz. Allein hätte ich es niemals gekauft. Ich hätte nicht einmal gewagt, es anzuprobieren. Yannick bestand aber darauf, ich machte ihm die Freude. Was war schon dabei … für die paar Sekunden, dachte ich. Nur dass ich es am Ende gar nicht mehr ausziehen durfte. Er fand es einfach perfekt und beharrte darauf, es mir zu schenken. Mit einem flüchtigen Kuss und einem „ich liebe dich“ unterband er meine zarten Proteste und griff dabei nach meinem alten Kleid, das er dem Händler in die Hand drückte, mit der Bitte, es einzupacken. Na super! Jetzt war ich als Vamp unterwegs, fehlte nur noch die Schminke. Gut, dass der Markt so gut besucht war, in der Menge fiel ich nicht zu sehr auf.
Auf dem Rückweg kauften wir noch ein paar Fressalien ein: Brot, Oliven, Wildschweinschinken, eine leckere Salami, Marmelade … und trafen schließlich auf Antoine und Melanie. Die Straße war so voll, unmöglich, ihnen aus dem Weg zu gehen. Wir waren sowieso fast zusammengestoßen. Yannick, dessen Handy klingelte, entschuldigte sich mit einer Handbewegung und zog sich hinter einem Stand zurück. Melanie fragte mich zögerlich, ob ich am nächsten Tag zu Hause wäre. Ich bestätigte, dass ich vorhatte, mit meiner Familie zu feiern, und bat sie vorbeizuschauen. Wir wechselten noch ein paar Worte, ehe sie sich verabschiedete und weiterlief. Antoine, der sich bis dahin auf ein „Hallo“ beschränkt hatte, blieb wie angewurzelt vor mir stehen. Er musterte mich, als würde er mich zum ersten Mal sehen, und meinte: „Gut siehst du aus.“
Zuerst sprachlos, musste ich dann doch lächeln. „Das merkst du ein bisschen spät.“ Ich konnte mich nämlich nicht entsinnen, dass er mir in den sechs Monaten ein einziges Kompliment gemacht hatte. „Aber du hast wahrscheinlich Recht, vielleicht war das vor drei Wochen gar nicht der Fall. Ich schätze, ich strahle, weil ich glücklich bin. Also dann, tschüss und grüß die anderen von mir“,
da ich sie nicht mehr sehen darf,
hätte ich am liebsten hinzugefügt.
Ich ging dann zu Yannick, der immer noch telefonierte. Seine blauen Augen durchbohrten mich, als ich mich näherte. Kaum war ich bei ihm angelangt, ließ er seine freie Hand auf meinen Hintern gleiten. Ich glaubte Antoines Blicke auf mir zu spüren, musste mich zusammenreißen, um mich nicht umzudrehen. Die Bestätigung ließ nicht lange auf sich warten, denn als Yannick das Handy wieder einpackte, meinte er trocken: „Noch einer, der mich am liebsten erschießen möchte.“
Zu Hause begrüßte mich
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