Im Morgengrauen
denn auf hundert Meter?“
„ Keine Ahnung, ich habe meine Zeit vergessen“, stotterte ich.
Eigentlich war ich im Sport eher schlecht als gut. Mir wurde auf einmal klar, dass die alte Lilly niemals eine solche Strecke in einer so kurzen Zeit hätte zurücklegen können, und vor allem, dass sie außer Puste gewesen wäre. Also versuchte ich den Eindruck zu erwecken, ich sei außer Atem.
Aquila nahm sich den Apfel. Ich wechselte das Thema, indem ich mich für das Satteln bedankte.
„ Keine Ursache! Sie war so nervös. Ich dachte, es würde sie schon mal beruhigen. Sie muss sich sowieso wieder an mich gewöhnen, da du bald in Urlaub fährst.“
Seine letzten Worte klangen traurig.
Wie am Vortag mit seiner Mutter galoppierten wir zum Fluss. Während die Pferde tranken, starrte mich Manuel mit seinen großen braunen Augen an.
„ Wieso hast du mir nicht gesagt, dass ich einen Sonnenbrand kriege?“, warf ich ihm vor, um seinem Blick zu entkommen.
„ Erstens habe ich es zu spät gemerkt und zweitens bekommst du dadurch Sommersprossen, und ich liebe deine …“
Mit dem Finger auf seinen Lippen brachte ich Manuel zum Schweigen. Bei der ersten Gelegenheit sprach er weiter: „Sie stehen dir so …“ Wieder hinderte ich ihm am Weitersprechen. Als ich seinen Mund erneut freigab, fuhr er fort: „Du bist so sü…“
Nun legte ich ihm meine ganze Hand auf den Mund und täuschte Verärgerung vor. Lachend schob er sie weg und versprach aufzuhören. Auf einmal wurde sein Blick ernster und er fragte mich, ob ich ihm meinen Traum erzählen wollte.
„ Nein, nicht jetzt. Du hattest Recht, lass uns einfach die Zeit genießen.“
„ Das finde ich aber sehr vernünftig“, meinte er und machte sein Pferd an einem Baum fest.
Ich tat es ihm nach. Dann legten wir uns ins Gras. Obwohl ich in den Himmel schaute, konnte ich Manuels Blick regelrecht spüren. Ich schloss die Augenlider, um alles um mich herum besser wahrnehmen zu können: seinen Geruch, den des Grases und den der Pferde, das Geräusch ihrer mahlenden Kiefer, das Gezwitscher der Vögel, das Rieseln des Wassers. Wir blieben eine Weile liegen, ohne ein Wort zu sagen. Ich wusste, dass Manuel mich nach wie vor beobachtete.
„ Ist das nicht langweilig?“, fragte ich.
„ Ich könnte dich stundenlang anschauen“, gestand er.
„ Dann tut es mir Leid … Ich muss aber gehen.“
„ Schon!“ Seine Enttäuschung war nicht zu überhören.
„ Ja leider. Mein Vater will früh nach Hause kommen. Er will mit mir reden.“
„ Schon wieder?“
„ Was heißt schon wieder? Bis jetzt hat er mich mehr oder weniger in Ruhe gelassen. Weißt du, dass du mich manchmal an ihn erinnerst?“
„ Solange dir dabei klar ist, dass ich nicht sein Sohn bin, ist das in Ordnung. Mir ist lieber, du vergleichst mich mit deinem Vater als mit meinem. Weiß du schon, was dich erwartet?“
„ Nicht genau. Ich gehe davon aus, dass er mich zum Psychologen schicken will.“
„ Das kann ich gut nachvollziehen“, sagte er mit einem schallenden Lachen.
Worauf ich ihm auf den Arm boxte und ihn einen Idioten schimpfte. Das nützte aber nichts, sein Gelächter wurde immer lauter. Nachdem er sich endlich wieder im Griff hatte, stand er auf und half mir hoch.
„ Du scheinst es auf einmal eilig zu haben, mich zum Psychologen zu schicken.“
„ Ich habe nur Angst, dass du morgen nicht reiten darfst, falls du zu spät nach Hause kommst. Stell dir vor, wie viel Arbeit ich dann hätte … Aber das mit dem Seelenklempner ist schon Klasse.“
Schnell ritten wir zurück. Der Jeep stand schon vor der Haustür. An der Koppel angekommen stieg Manuel hastig vom Pferd und nahm mir die Zügel ab: „Geh schon, ich kümmere mich um Aquila.“
„ Was würde ich ohne dich machen?“, sagte ich, bevor ich ihn auf die Wange küsste.
„ Das frage ich mich auch.“
Ohne Kommentar, ohne mich umzudrehen, lief ich winkend zum Haus. Nach ein paar Metern hörte ich, wie er rief: „Lilly, sie stehen dir ausgezeichnet, deine Sommersprossen.“
8
Kaum hatte ich den Zaun erreicht, sah ich ihn. Mein Vater hatte es sich bereits auf der Terrasse gemütlich gemacht, eine Flasche Bier in der Hand. Bestimmt sein erstes dieses Jahr. Somit war die Sommersaison eröffnet. Sonst trank er nur Wein, und den nur zum Essen. Er war bereits umgezogen, also saß er schon länger da. Nichtsdestotrotz schien er gut gelaunt zu sein und begrüßte mich mit einem breiten Lächeln.
„ Hallo Lilly! Wie
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