Im Morgengrauen
plausible Erklärung abzuliefern: „Der Nachmittag, den wir miteinander verbracht haben, hat uns näher gebracht. Ich habe den Eindruck, sie fühlt sich ein bisschen verantwortlich für mich, wie eine Mutter halt.“
„ Solange du dich daran erinnerst, dass ich nicht dein Bruder bin, soll’s mir egal sein … Obwohl, nach dem, was in der Scheune passiert ist, glaube ich kaum, dass du noch Zweifel hast.“
Mir wurde auf einmal ganz heiß, ich wollte seinem Blick entkommen, er nahm aber mein Gesicht zwischen seine Hände. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Stein in der Brust.
„ Du willst mir doch nicht weismachen, dass das, was zwischen uns ist, platonisch ist. Und es geht mir nicht in den Kopf, dass ein Traum dich dermaßen beeinflussen kann. Willst du ihn erzählen?“
„ Nicht jetzt, ich würde weinen.“ Die Tränen schossen bereits hoch. „Irgendetwas sagt mir, dass es sich um eine Vorahnung handelt.“
„ Seit wann bist du Hellseherin?“
„ Hör auf, dich über mich lustig zu machen! Es wäre nicht das erste Mal, dass ich etwas träume, was später geschieht“, log ich.
„ Oh Lilly!“ Er küsste meine Stirn, und ich spürte seine Hand in meinem Nacken. „Angenommen, du kannst wirklich hellsehen und das Schwert des Damokles schwebt über meinem Kopf, was hat das mit dir zu tun … und mit uns?“
„ Weil es in meinem Traum meine Schuld war, verstehst du?“
Meine Stimme zitterte, ich wollte mich von ihm lösen, spürte aber seine Hand in meinem Rücken. Sie presste mich gegen ihn, war nicht bereit, mich freizulassen, während die andere meinen Kopf streichelte.
„ Nein, geh nicht. Nicht so. Beruhige dich bitte. Entschuldigung … Ich hatte versprochen, nicht darauf zurückzukommen. Du sollst aber wissen, dass mir dein Traum egal ist. Ich gehe das Risiko ein.“
Er hatte seine Umklammerung gelockert und wiegte mich wie ein kleines Kind.
„ Aber ich nicht, Manuel … Ich nicht.“
„ Oh Lilly, ich liebe dich so sehr.“
„ Ich dich auch“, flüsterte ich, „und deshalb kann ich das Risiko nicht eingehen. Sollte dir etwas passieren, würde ich es mir nie verzeihen.“
„ Hast du auch schon mal gute Vorahnungen gehabt oder nur schlechte?“
„ Auch gute, wieso?“
„ Dann will ich hoffen, dass du etwas Schönes von uns träumst in den nächsten Wochen.“
Er lächelte mich traurig an und schlug einen kleinen Spaziergang vor. Nach dem Stall bog er ab. Als die Häuser und die Koppel nicht mehr zu sehen waren, fragte er leise: „Lilly, darf ich dich küssen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nur einmal.“
„ Nein, Manuel. Was würde das schon bringen?“
„ So wüsste ich wenigstens, wie es ist, die Frau zu küssen, die ich liebe. Wer weiß, es wäre vielleicht das erste und letzte Mal. Ich könnte träumen, hoffen, klarer sehen. Vielleicht würde es dir helfen, klarer zu sehen.“
Seine Lippen berührten mich, während er mich anflehte. Ich bekam Gänsehaut und machte einen Schritt zurück.
„ Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“
„ Nur einmal Lilly, bitte. Ich verspreche dir, ich werde nicht zulassen, dass du mich ausziehst.“
„ Sehr witzig!“, sagte ich höhnisch.
Er trat einen Schritt vor und drückte mich mit seinem Körper gegen die Wand, packte meinen Nacken. Seine Lippen streiften meine Haut und näherten sich meinem Mund. Das Herz pochte mir in der Brust, es kribbelte im Bauch. Es durfte nicht geschehen. Es würde alles nur noch komplizierter machen, als es schon war. Ich versuchte, ihn zurückzustoßen.
„ Nein, Manu bitte, hör …“
Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, seine Lippen brachten mich zum Schweigen. Seine warme Zunge drang in meinen Mund und erforschte ihn. Ich spürte wieder diese verdammte Hitze. Nur diesmal konnte ich nicht weglaufen. Ich war weder physisch noch psychisch dazu in der Lage. Mit geschlossenen Augen gab ich mich dem Kuss hin. Es war nicht der leidenschaftliche Kuss, den ich mir nach dem Vorfall in der Scheune ausgemalt hatte. Ganz im Gegenteil, er war überaus zärtlich und doch von einer unvergleichbaren Intensität. Noch nie hatte mich jemand so mit einem Kuss durchdrungen.
„ Oh Lilly, ich liebe dich.“
„ Sei still!“
Seine Lippen berührten mich wieder. Als ich plötzlich anfing zu zittern, hielt ich meine Hand vor seinen Mund.
„ Du sagtest
einmal
.“
„ Entschuldige, du hast Recht.“
Er küsste flüchtig meine Stirn und drückte mich eine Weile fest an sich. Ohne ein Wort zu
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