Im Morgengrauen
sagen, liefen wir dann bis zum Zaun. Gott sei Dank waren weder Marie noch mein Vater im Garten. Ich brauchte keine Zeugen, Manuel umklammerte mich, als wollte er mich nie wieder loslassen.
„ Ich kriege keine Luft mehr.“
„ Perdón“, sagte er verlegen. Er drückte seine Lippen auf meine, und fügte hinzu: „Komm schnell wieder!“
Plötzlich drehte er sich um und ging, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.
Obwohl mein Koffer nicht fertiggepackt war, hatte ich es an diesem Abend nicht eilig, auf mein Zimmer zu gehen. Ich wusste, ich würde seinen Kuss – UNSEREN Kuss – wieder und wieder in meinem Kopf erleben. Wieso hatte ich das zugelassen? Hätte ich es wirklich gewollt, hätte ich ihn mit Sicherheit daran hindern können. Es durfte sich nicht wiederholen. Ich hoffte, Anna würde mit ihm sprechen. Hatte sie nicht gesagt, sie wollte ihn vorbereiten? Alles wäre einfacher, wenn er Bescheid wüsste. Er könnte mich endlich verstehen … einsehen, dass das mit uns zweien nicht … Ach Mann! Auf einmal war ich wieder erleichtert, gehen zu können … dem Ganzen zu entfliehen.
10
Mein Vater wollte früh losfahren, aber wie immer wurde getrödelt. Um Zeit zu gewinnen, bot ich an, die Fensterläden vom Erdgeschoss von außen aufzuschließen, damit er sie von innen zumachen konnte. Dabei kamen mir die Phobien meiner Mutter wieder in den Sinn. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte Papa mit einem unterdrückten Lächeln: „Spezielle Konstruktion.“
Mein Herz schlug schneller, als ich sah, dass Manuel am Zaun stand und mich beobachtete. Obwohl ich Abschiedsszenen verabscheute, rührte es mich, ihn dastehen zu sehen. Irgendwie tat er mir auch Leid.
„ Du erlaubst doch, dass ich mich von Manuel verabschiede, oder?“
„ Klar, aber beeile dich bitte.“
Als Manuel merkte, dass ich in seine Richtung lief, kam er mir entgegen. Er umklammerte mich sofort und flüsterte: „Du fehlst mir jetzt schon.“
Ehe er mich küssen konnte, sagte ich: „Marie ist schon im Wagen, ich muss gehen. Ich rufe dich an.“
Widerwillig ließ er mich los, drückte seine Lippen auf meine Stirn und sah mir nach.
Wir verbrachten fast neun Stunden auf der Straße, um gerade mal sechshundertfünfzig Kilometer zurückzulegen. Gut, dass wir nicht in den Süden wollten. Den Radiomeldungen zufolge waren die Autobahnen Richtung Riviera total dicht. Einerseits wäre ich lieber ans Meer gefahren, andererseits war ich froh, meine Großmutter wiederzusehen und Zeit in den Hautes-Combes zu verbringen. Diese Gegend mit ihren urigen Dörfern und ihren malerischen Landschaften lag mir am Herzen. Ich liebte die Schäfereien, die Pferde- und Bisonzuchten. Es war der ideale Ort, um sich zum Nachdenken zurückzuziehen. Bei allem, was vorgefallen war, hatte ich nicht einmal daran gedacht, meine Freundin Julie anzurufen, um zu fragen, ob sie da sein würde. Sollte sie in Urlaub sein, machte mir die Aussicht, viel Zeit allein zu verbringen, keine Angst.
„ Wenn du so weitermachst, wirst du verlieren.“
Maries Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„ Wie bitte?“
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.
„ Lilly ist mit ihren Gedanken nicht bei uns“, meinte mein Vater. „Bist du noch zu Hause oder schon im Jura?“
„ Im Jura“, antwortete ich. „Was spielt ihr denn?“
„ Wir zählen die Autos, Papa die schwarzen, ich die roten und du die blauen.“
„ Oh!“, entglitt mir ohne große Begeisterung.
„ Du kannst ja noch die Farbe wechseln, wenn du willst.“
„ Nee, nee, schon gut. Blau passt ausgezeichnet.“
Ich spielte mit, bis wir zum Essen anhielten. Mein Vater, der bestimmt lieber Merguez mit Pommes gehabt hätte, stoppte vor einer amerikanischen Fast-Food- Kette, um uns eine Freude zu machen. Es war gerammelt voll und die Belegschaft war nicht besonders gut organisiert. Als wir endlich am Tisch saßen, meinte Papa höhnisch: „Das ist kein Fast Food, sondern eher Slow Food.“
Nach dem Essen schlief ich ein, wodurch zum Glück die Zeit im Auto schneller verstrich. Alles nur eine Frage der Wahrnehmung.
Ich war froh, endlich das Haus meiner Großmutter zu entdecken. Es war typisch für die Region, grau mit einer gewölbten Tür und kleinen Fenstern. Eine Farbschicht würde der Fassade wahrhaftig nicht schaden, dachte ich gerade, als meine Oma im Türrahmen erschien. Sie war groß für eine Frau ihres Alters, ihre Anmut erinnerte mich an Mama. Ihr kurzes Haar war praktisch
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