Im Morgengrauen
vergessen die Leute nicht so schnell.“
„ Langweilst du dich nicht das ganze Jahr allein hier oben?“
„ Deine Eltern wollten, dass ich mit euch wegziehe, damals. Ich war aber so getroffen, dass mir alles egal war. Wie du siehst, habe ich mich ein wenig gefangen“, erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln.
„ Und würdest du jetzt mitgehen?“
„ Na ja, dein Vater hat mir mehrmals vorgeschlagen, bei euch zu leben. Aber ehrlich gesagt, ich hatte immer Angst davor, eher eine Last als eine Hilfe zu sein. Alte Bäume verpflanzt man nicht. Davon abgesehen hatte ich immer gehofft, er würde wieder heiraten. Ich dachte mir, eine Schwiegermutter unter seinem Dach zu haben würde es ihm nicht gerade einfacher machen, eine Frau zu finden.“
„ Ich muss dich enttäuschen, er sucht nicht einmal.“
„ Ich schätze, er hat sie zu sehr geliebt.“ Sie rang mit den Tränen. „Wenn ich euch anschaue, finde ich, dass er es ganz gut allein hinkriegt.“
„ Anna hat uns damals viel geholfen.“
„ Übrigens: Wie geht es den Martinez?“
„ Na ja, Miguel ist immer noch so verschlossen und brummig. Es ist eigentlich schlimmer denn je. Anna ist nach wie vor da, wenn ich sie brauche, ein bisschen wie eine große Schwester. Und was Manuel betrifft, wärst du überrascht. Er hat immer noch seine schwarzen Locken, er ist aber wahnsinnig gewachsen. So dann … ich gehe mal das Mofa vor dem Essen ausprobieren.“
„ Ist das deine Art, mir zu sagen, dass du Hunger hast? Schon verstanden, ich gehe in die Küche.“
„ So war’s nicht gemeint. Ich komme gleich nach und helfe dir.“
Mit Ach und Krach konnte ich den Motor zum Laufen bringen. Als meine Großmutter nach dem Mittagessen zu Bett ging, nutzte ich die Zeit, um mit Manuel zu telefonieren. Obwohl seine Stimme traurig war, war es Balsam für die Seele, ihn zu hören.
Später ging ich mit meiner Oma spazieren. Sie fürchtete, ich würde die zwei Wochen ausschließlich mit ihr verbringen, und machte mich darauf aufmerksam, dass sie es gewohnt sei, allein zu sein. Ich erklärte ihr, Julie sei wahrscheinlich in Urlaub. Es würde mir aber nichts ausmachen, denn so hätte ich genügend Zeit zum Lesen und zum Nachdenken.
„ Über Antoine?“
„ Oh! Papa hat es dir erzählt. Nein, das glaube ich nicht. Das wäre reine Zeitverschwendung. Wirklich“, sagte ich belustigt.
„ Und sonst? Alles in Ordnung?“
„ Alles bestens“, log ich.
In Wirklichkeit war gar nichts in Ordnung. Warum plötzlich diese Frage? Hatte Oma etwa einen Verdacht? Sie hatte mich so seltsam angeschaut. Es wäre die Gelegenheit gewesen, ihr alles zu erzählen. Dazu fehlte mir aber der Mut.
Am Abend rief mich Manuel noch einmal an, er war besserer Stimmung als am Mittag. Als er lachte, schloss ich die Augen und sah ihn. Selbst nach dem Auflegen ließ er mich nicht mehr los. Ich stellte mir vor, wie er mich küsste und berührte. Eigentlich hätte ich ihn aus meinem Kopf verbannen sollen. Da sechshundertfünfzig Kilometer zwischen uns lagen, bestand keine Notwendigkeit. Schließlich konnte nichts passieren und so verlor ich mich in meinen Träumen.
11
Am nächsten Tag fuhr ich nach dem Mittagessen nach Oyonnax. Ich musste unbedingt zur Bücherei, um zu sehen, ob ich etwas Interessantes über Therianthropen und Werwölfe fand. Wenn ich schon da war, konnte ich genauso gut Bücher ausleihen. Zeit zum Lesen hatte ich ja.
Den Motor des alten Mofas in Gang zu setzen erwies sich beileibe nicht als einfach. Ich hoffte, das Klappergestell fuhr mich auch bis zu meinem Ziel. Vor allem, nachdem der Motor unterwegs zweimal ins Stocken geriet. Endlich da! Ich konnte aufatmen.
Außer der Schulbibliothek hatte ich schon ewig keine Bücherei mehr betreten. Da es nicht infrage kam, irgendetwas über das Thema Verwandlung mit nach Hause zu nehmen, musste ich wohl alles dazu an Ort und Stelle lesen. Also schlenderte ich durch die Gänge und wälzte Bücher. Zum großen Teil handelte es sich um Romane, die mich überhaupt nicht interessierten. Nur ein Werk zog meine Aufmerksamkeit auf sich, obwohl ich wenig erfuhr. Aber schließlich hatte ich es auch nur überflogen. Vielleicht sollte ich wiederkommen, um in Ruhe darin zu lesen. Ich hatte ziemlich lange getrödelt, es war höchste Zeit, für die andere Lektüre zu sorgen. Manuel schwirrte mir schon so im Kopf herum, daher verzichtete ich auf Liebesgeschichten und entschied mich für Krimis. Meine Wahl war bereits auf vier
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