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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Béchar
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Gegenteil. Ich hatte sogar damit angefangen, sie zu vergleichen. Manuel war jünger, viel jünger, aber größer und kräftiger. Sein Gesicht war breiter und kantiger, seine Lippen voller. Schon musste ich wieder an seinen Kuss denken. Überhaupt – er hatte den schönsten Mund und vor allem das schönste Lächeln der Welt. Die meisten Mädchen schauen zuerst auf die Augen. Mein Blick richtete sich bisher als Erstes auf den Mund, wahrscheinlich wegen Manuel.
    Schon als wir klein waren, konnte ich ihm nichts abschlagen, sobald er mich anstrahlte. Nichtsdestotrotz hatte er schöne, große, leuchtend braune Augen mit langen gebogenen Wimpern. Selbst mit Wimperntusche hätte ich meine nie so perfekt hingekriegt. Aber sein Lächeln war so breit und vollkommen, es stellte alles andere in den Schatten.
    Sein Gegenspieler hatte kurzes Haar, sehr kurz und braun, ein bisschen dunkler als meins, feinere Gesichtszüge als Manuel, einen kleineren Mund, viel kleiner, und doch ein schönes Lächeln. Auch die Augen waren kleiner, aber das tiefe Blau machte alles wett. Der Kontrast zwischen der hellen Iris und dem doch dunklen Haar war überwältigend. Noch nie hatten mich Augen so fasziniert. Es lag sicher daran, dass ich sie gesehen hatte, ehe ich überhaupt wusste, wem sie gehören … oder doch daran, wie sie mich angestarrt hatten. Wie auch immer, mir wurde ganz mulmig, wenn ich an sie dachte.
    Schließlich rief ich mir ins Gedächtnis, wie sehr der junge Mann, dem sie gehörten, mir auf den Keks gegangen war. Höchste Zeit, an etwas anderes zu denken. Wahrscheinlich würde ich ihn nie wieder sehen, und das war gut so. Ich fing an zu lesen.

12
     

     

     

     

    Am nächsten Morgen blieb mein Herz stehen: Ein Yannick hatte eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen. Das konnte nur der schöne Fremde gewesen sein. Ich hatte mir gar keine Gedanken darüber gemacht, ob er seine Nummer in mein Telefonbuch gespeichert oder ob er sie einfach gewählt hatte, damit ich ihn per Wahlwiederholung erreichen konnte. Auf einmal sah ich wieder vor mir, wie er mit meinem Handy in der Hand strahlte. Das Schlitzohr hatte beides getan, mir seine Nummer samt Namen hinterlassen und meine an sich selbst geschickt. Damit war meine Frage wohl beantwortet: Er war nicht so besorgt gewesen, wie er tat. Er war eher scharf auf meine Nummer gewesen ... Obwohl … immerhin hatte er mich nach einem Kugelschreiber gefragt. Hätte ich einen dabeigehabt, hätte er mich später nicht anrufen können. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Einerseits ging er mir kolossal auf den Keks: Ich fand ihn unverfroren, selbstgefällig, viel zu forsch. Andererseits war es schon sehr schmeichelhaft, wenn ein junger Mann, der so umwerfend aussah, sich für mich interessierte. Neugierig hörte ich die Mailbox ab. Er ging davon aus, dass ich gut nach Hause gekommen war, wollte Bescheid sagen, dass er den ganzen Morgen in seiner Werkstatt wäre, falls ich doch mit dem Mofa vorbeikommen wollte, und erklärte mir anschließend den Weg.
    Meine Großmutter war entzückt, dass ein junger Mann – wie jung, wusste sie nicht, ich im Übrigen auch nicht – so nett, so hilfsbereit und so zuvorkommend zu ihrer Enkelin war. Da ich Julie immer noch nicht erreicht hatte, war sie froh, dass ich Kontakt zu einem „Gleichaltrigen“ hatte, und schien jedoch enttäuscht, weil ich nicht sofort zu ihm fuhr. Sie würde sich schließlich besser fühlen, wenn mein Mofa ein zuverlässiges Gefährt wäre.
    Ich hätte lieber den Mund halten sollen. Sie würde ständig nachhaken und Fragen stellen. Eines war sicher: So schnell würde ich diesen Yannick nicht anrufen. Solange der Motor lief und ich nicht gerade fünfzig Kilometer am Tag zurücklegen musste, gab es keinen Anlass dazu.
     

    Nach dem Mittagessen packte ich eine Decke, ein Buch und eine Flasche Wasser ein und ging damit zur Felswand. Ich liebte diesen Ort mit der Steinwand auf der einen Seite und der Weite mit einem atemberaubenden Panorama auf der anderen. Als ich klein war, war ich oft mit meiner Mutter hier gewesen. Sie kletterte hier gerne und ich fragte mich, ob die neue Lilly dazu ebenfalls in der Lage wäre. Ich näherte mich dem Felsen, um nach Griffen und Tritten im Stein zu suchen, wurde aber gleich von einem Motorradgeräusch gestört. Da ich auf keinen Fall meine ersten Kletterversuche vor Augenzeugen machen wollte, ging ich schnell zur Decke zurück und nahm mein Buch. Nach zwei Minuten erklang eine Stimme –

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