Im Morgengrauen
Wohnung.
23
Den Blick von Manuel, als Yannick zu seinem Wagen ging, werde ich nie vergessen: überrascht und finster zugleich. Ich konnte mir ausmalen, was in seinem Kopf vorging.
Um die Stille zu füllen, legte Yannick eine CD ein: The Great Crusades, noch eine Gruppe, die mir unbekannt war, aber sofort gefiel. Kein Wunder, bei der rauen Stimme! Gespannt auf mein Urteil, schielte Yannick zu mir. Mein Gesichtsausdruck war Antwort genug: Er hatte wieder einmal ins Schwarze getroffen.
Bei unserer Ankunft erstarrte meine Großmutter. Kein Wunder! Ich kam mit Yannick zu meiner Rechten und Manuel zu meiner Linken zurück, sicherlich ein seltsames Bild nach den Vorkommnissen vom Vortag, vor allem in unserer Aufmachung: Manuel waren Yannicks Klamotten zu klein, mir hingegen viel zu groß. Vermutlich wusste meine Großmutter sofort bei unserem Anblick, was uns widerfahren war. Sollte sie nur einen Hauch von Zweifeln gehabt haben, schwanden sie, als ich sagte: „Oma, wir müssen mit dir reden.“
Erschrocken führte sie ihre Hand zum Mund und drückte uns nach einer kurzen Schreckensstarre ganz fest an sich.
Als ich anfing, meine erste Metamorphose zu schildern, registrierte ich die Blicke, die sich Yannick und meine Großmutter zuwarfen. In seinem sah ich Verlegenheit, in ihrem Verwunderung. Ich verlor mich in meinen Erzählungen, bis ich plötzlich merkte, dass Yannick nicht mehr da war. Ich ließ meine Augen suchend in dem Raum umherschweifen, was meiner Großmutter nicht entging. „Weiß er über alles Bescheid?“
Da ich mit dem Kopf nickte, bat sie mich, ihn reinzuholen, und beobachtete dabei Manuels Reaktion. Zu unserer Überraschung stand er auf, um sich darum zu kümmern. Sekunden später betraten beide gemeinsam das Wohnzimmer. Ich erzählte weiter, verschwieg jedoch, dass es sich bei einem der Verfolger um Yannicks Bruder handelte. Meine Großmutter zuckte zwei Mal zusammen: Als ich meine schützende Mähne erwähnte und als ich vom Falken sprach. Sie unterbrach mich jedoch mit keinem Ton und wartete geduldig ab, bis ich mit meinen Schilderungen fertig war.
„ Wenn ich recht verstehe, hast du dich vor den Wölfen nur in eine Löwin verwandelt, und außer Manuel und Yannick hat dich niemand als Falken gesehen?“
„ Genau … Wenigstens hoffe ich das.“
„ Versprich mir, dass du vor Zeugen niemals eine andere Gestalt annimmst, als die einer Löwin. Dein Leben könnte sonst in Gefahr sein. Der Rat darf auf keinen Fall erfahren, wozu du fähig bist. Für die Wölfe musst du eine Löwin bleiben.“
„ Du bist gut! Ich kann das nicht steuern, es ist einfach so gekommen.“
„ Natürlich kannst du das. Du hast dich bereits zwei Mal absichtlich in einen Vogel verwandelt … Bist du sicher, dass du ein Falke warst? … Kein Adler?“
„ Absolut!“
Wenn dem nicht so wäre, hätte es Yannick längst erwähnt.
„ Dein Unterbewusstsein wird jedes Mal ein Tier ausgesucht haben, das am besten geeignet war, um dich aus einer Notlage zu befreien. Beim ersten Mal der Löwe, weil er dem Tiger die Stirn bieten konnte. Ein Männchen flößt nun mal mehr Ehrfurcht ein als ein Weibchen. Womöglich hat dir die Mähne sogar das Leben gerettet. Tja … das mit dem Vogel ist schon … verblüffend. Ich schätze, da war nur wichtig, dass du so schnell wie möglich fliehen konntest. Von dem abgesehen, konntest du aus der Höhe auch noch deine Verfolger besser beobachten. Einfach genial! Wieso ausgerechnet einen Falken, ist mir ein Rätsel. Vielleicht war das Bild eines Falken aus irgendeinem Grund in dir verankert.“
Manuel und ich hatten den gleichen Gedanken und schauten beide in Yannicks Richtung. Er hatte natürlich seine Tätowierung auf dem Bild gesehen. Meine Großmutter, die unsere Blicke nicht deuten konnte, zog die Augenbrauen hoch.
„ Ich habe eine Schwäche für Falken“, erklärte Yannick.
„ Bei der dritten Verwandlung am Wasserfall hast du dich vermutlich in ein Weibchen verwandelt, weil du instinktiv wusstest, dass ein Männchen dich in eine schwierige Lage bringen könnte. Da du eine Frau bist, wird die Löwin in Zukunft wahrscheinlich die Oberhand gewinnen … Das Männchen ist ohnehin seltsam … Was warst du als Falke?“
„ Ein Weibchen“, antwortete Yannick für mich. Ich schaute ihn perplex an. Ich wäre gar nicht in der Lage gewesen, dies zu beantworten, denn ich hatte mir nie die Frage gestellt und wunderte mich, dass er es getan hatte. „Nur die Spitzen vom
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