Im Morgengrauen
ihm die Wahrheit verschwiegen hat. Selbst seine Beziehung zu Manuel leidet darunter. Ich bin mir sicher, dass er sie liebt, sonst wäre er nicht mehr bei ihnen, er kann es aber nicht zeigen.“
„ Manchmal frage ich mich, ob es für die beiden nicht besser gewesen wäre, wenn er sie verlassen hätte“, brummte meine Großmutter.
Schon wieder ließ mich Yannick los und fragte nach den Tassen. Ich drehte mich um: Manuel stand in der Tür. Langsam näherte er sich und legte mir die Kette mit dem Stein um den Hals.
„ Danke, dass du ihn mir anvertraut hast.“
„ Danke, dass du auf ihn aufgepasst hast.“
Prompt holte meine Großmutter Geschirr aus dem Schrank und drückte es Yannick und mir in die Hand. Sie bat uns, den Tisch im Esszimmer zu decken. Angeblich, weil es dort bequemer war. Ich hatte eher den Eindruck, dass sie allein mit Manuel bleiben wollte. Weshalb wir auch nicht in die Küche zurückgingen. Als die beiden später mit Kaffee, Tee und Keksen nachkamen, war Manuels Blick leer und traurig. Zehn Minuten zuvor hatten seine Augen noch geleuchtet.
Kaum hatten wir uns bedient, ergriff meine Großmutter das Wort: „Ich hatte gehofft, Anna würde mir die Entscheidung abnehmen, denn ich kann sie nicht für euch treffen. Was mich angeht, habe ich beschlossen, dass ich mein Haus nicht verlassen werde, ohne zu wissen, ob das wirklich notwendig ist. Ich würde aber vorschlagen, dass ihr mit Marie wieder nach Hause fahrt.“ Sie legte ihre Hand auf Yannicks Unterarm, ehe sie fortfuhr: „Ich wollte Sie fragen, ob Sie die Kinder begleiten könnten.“
„ Selbstverständlich, Frau Boyer, ich hätte es getan, selbst wenn Sie mich nicht darum gebeten hätten.“
„ Eliane. Sagen Sie Eliane zu mir.“
„ Gut, Eliane.“ Sein Lächeln entging mir nicht, als er den Namen wiederholte. „Ich hätte da noch eine Frage: Angenommen, die Wölfe haben dem Rat Bericht erstattet, was hätte das für mögliche Folgen?“
„ Im besten Fall würden sie nicht angreifen, sie würden uns aber mit Sicherheit unter Beobachtung stellen, was auch nicht gerade wünschenswert wäre. Eine andere Möglichkeit wäre der Besuch von einem Ratsmitglied … ohne Garantie, dass alles glimpflich abläuft. Man kann nicht behaupten, dass unsere Familie einen guten Draht zum Rat hätte. Im schlimmsten Fall würden sie ohne Vorwarnung angreifen. Deshalb möchte ich, dass ihr das Haus verlasst.“
„ Ich werde dich nicht zurücklassen, Oma“, sagte Manuel und nahm dabei ihre Hand.
Es war das erste Mal seit seiner Ankunft, dass er sie so nannte. Mir war schon aufgefallen, dass er „Oma“ sagte, wenn er über sie redete, er hatte sie aber immer beim Vornamen angesprochen. Sie war so gerührt, dass ihre Augen feucht wurden.
„ Für mich ist es ebenfalls ausgeschlossen, dich hier zu lassen. Sollten sie wirklich die Absicht haben, uns etwas anzutun, werden sie uns suchen und finden. Es ist nur eine Frage der Zeit. Dann lieber jetzt, wo wir damit rechnen“, argumentierte ich, damit sie gar nicht erst auf die Idee kam, mich umstimmen zu wollen.
Sie schaute Yannick an, der sich sofort angesprochen fühlte.
„ Ich bleibe bei euch, solange ich nicht weiß, ob ihr in Gefahr seid. Ich habe mich ohnehin auf das Schlimmste vorbereitet.“
„ Dann werde ich jetzt Manons Mutter anrufen, um zu fragen, ob Marie dort übernachten kann. Ich möchte nicht, dass sie hier ist, falls irgendetwas schiefgeht.“
Was sie auch tat. Anscheinend waren die Mädchen begeistert und meine Großmutter beruhigt, zumindest was Marie betraf. Als sie mich bat, mit ihr den Tisch abzudecken, spürte ich sofort, dass sie mich unter vier Augen sprechen wollte. Kaum hatte ich den Raum verlassen, konnte ich hören, wie Manuel zu Yannick sagte: „Keine Sorge, es wird dir gefallen.“
Als Allererstes wollte meine Großmutter wissen, was Yannick mit seinen Vorbereitungen auf das Schlimmste meinte.
„ Er ist bewaffnet“, antwortete ich. Die Angst in ihren Augen war nicht zu übersehen, deshalb versuchte ich, sie zu beruhigen. „Er ist kein Krimineller! Er hat sich nur Waffen geliehen, für alle Fälle.“
„ Ich mache mir keine Gedanken über ihn oder seine Absichten. Ich weiß, dass er nur Gutes im Sinn hat, ich habe es gespürt. Aber sollte es wirklich zu einem Kampf kommen, wird ihm eine konventionelle Waffe nicht viel nützen, fürchte ich.“
„ Sei dir da nicht so sicher. Er weiß, was er tut: Er hat sie von einem Jäger.“
Ein überraschtes „Oh!“
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