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Im Namen der Engel

Im Namen der Engel

Titel: Im Namen der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Stanton
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bei jedem Wiederaufbau der Stadt kamen zu den erhalten gebliebenen Gebäuden Bauten in einem neuen architektonischen Stil hinzu. Deshalb war das Viertel eine hinreißende Mischung aus georgianischen, föderalistischen, Regency-, kolonialen, viktorianischen und Art-nouveau-Elementen. Bree überlegte, was für eine Art Büro Gabriel Striker wohl haben mochte. Die Weise, wie jemand seine Umgebung gestaltete, verriet eine Menge über den Betreffenden.
    Erst nachdem sie den Chatham Square zwei Mal umrundet hatte, fand sie die richtige Adresse, ein umgebautes Haus im georgianischen Stil. Der ursprüngliche Haupteingang war durch zwei Treppen links und rechts der erhöhten Veranda ergänzt worden, die zu den im ersten Stock gelegenen Apartments 136 und 138 führten. Apartment 140 befand sich im Souterrain. Der Eingang lag ein Stück von der Straße entfernt, im rechten Winkel zum Platz, und verschwand fast hinter einer mit Bartflechten bewachsenen Eiche. Als sich Bree dem Gebäude näherte, stellte sie fest, dass an die Rückseite ein Garten angrenzte, der von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben wurde. Die Stufen, die zur Haustür führten, bestanden aus Ziegelstein. Sie blieb mitten auf den Stufen stehen und beugte sich vor, um mit der Hand über den Zaun zu streichen. Trotz des unzureichenden Lichts der Wandlampe erkannte sie das Muster wieder: Kugeln, die so kunstvoll gearbeitet waren, dass sie lebendig zu sein schienen.
    Die Haustür war dunkelrot gestrichen. Eine Klingel war nirgendwo zu sehen. Allerdings gab es einen Türklopfer, in einer Form, die sie ebenfalls schon einmal gesehen hatte: eine Waage der Gerechtigkeit aus massiver Bronze, die von Flügeln eingerahmt wurde.
    Striker ließ sie nicht lange warten. Er öffnete die Tür und ging beiseite, damit sie eintreten konnte. Bree zeigte auf die Waage der Gerechtigkeit. »Wie ich sehe«, sagte sie, »werde ich erwartet.«
    Das Erste, was Bree in Gabriel Strikers Büro auffiel, waren die fünf Schwerter, die übereinander an der Wand hinter seinem Schreibtisch hingen, das längste unten, das kürzeste oben. Bree wusste sofort, dass sie sehr alt sein mussten, obwohl sie keine Ahnung hatte, warum sie da eigentlich so sicher war. Die polierten Stahlklingen waren gerade und schimmerten blau. Vielleicht schlussfolgerte sie das Alter aus den Edelsteinen, die in die Griffe eingelassen waren. Es waren abgerundete Steine in Rot, Blau und Grün, die so geschliffen waren, wie es seit mindestens zweihundert Jahren nicht mehr üblich war. Das unterste Schwert war fast zwei Meter lang, das oberste weniger als dreißig Zentimeter.
    »Sehr eindrucksvoll«, bemerkte sie. »Aber wer wäre denn groß genug, um mit dem untersten Schwert herumzufuchteln? Vermutlich ist es ein Zeremonialschwert, oder?«
    »Ganz im Gegenteil«, erwiderte er. »Bitte setzen Sie sich.« Er wies auf den Holzstuhl vor seinem Schreibtisch. Bevor sie Platz nahm, sah sich Bree aufmerksam um. Der Fußboden bestand aus zerschrammten, ungepflegten Kiefernholzdielen. Etwa ein Drittel davon wurde von einem abgenutzten Teppich von undefinierbarer Farbe eingenommen. Der Kamin an der hinteren Wand war zugemauert, auf den Fliesen davor stand eine Holzkiste mit alten Zeitungen. In einer Ecke befanden sich ein Sessel und eine Stehlampe. Das war alles. Vor dem zur Straße weisenden Fenster hing eine billige Plastikjalousie. Rechts vom Kamin führte eine halb offene Tür in ein weiteres Zimmer, in dem Bree die Ecke eines Herds und den oberen Teil eines Kühlschranks auszumachen vermochte. Er arbeitete hier – ob er wohl auch hier wohnte?
    Gabriel war mit einer abgetragenen Jeans, einem dunklen Pullover und Tennisschuhen bekleidet. Sein Schreibtisch war bis auf einen Becher mit Kugelschreibern und Bleistiften leer. Er setzte sich hinter den Tisch und legte die Füße darauf. »Nun«, sagte er. »Da sind Sie also.«
    »Da bin ich.« Bree lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich hätte ein paar Fragen zum Fall Skinner.«
    Er nickte.
    »Ich kann mich darauf verlassen, dass Sie mir die Wahrheit sagen?«
    Er sah sie überrascht an. »Selbstverständlich. Unter den gegebenen Umständen ist das eine merkwürdige Frage. Sind Sie in der letzten Zeit denn angelogen worden?«
    »Ob ich angelogen worden bin?«, gab Bree entrüstet zurück. Sie nahm die übereinandergeschlagenen Beine auseinander und richtete sich auf. »Das kann man wohl sagen!«
    »Von wem?«
    Das war eine Frage, die sie nicht beantworten konnte.

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