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Im Namen Ihrer Majestät

Im Namen Ihrer Majestät

Titel: Im Namen Ihrer Majestät Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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bewegten sich langsam von den Hirschen auf die Wölfe zu. Der Abstand betrug vielleicht ein paar hundert Meter. Ein Zipfel Wald versperrte beiden Seiten die Sicht. Sie konnten einander nicht sehen und nicht hören. Dann nahm der Leitwolf die Witterung auf. Das ganze Rudel setzte sich entschlossen in Bewegung und durchquerte das Waldstück in Richtung der Hirsche.
    Diese standen reglos da und lauschten. Jedoch schon bald hörten sie auf dem knirschenden gefrorenen Boden die näher kommende Gefahr. Die Leitkuh ergriff entschlossen die Initiative und führte ihre Herde schnell nach oben. Dann verschwanden die Hirsche zwischen den schützenden Bäumen. Eine halbe Minute später tauchte das Wolfsrudel an der Stelle auf, wo eben noch die Hirsche gestanden hatten. Der Leitwolf untersuchte den Boden in immer weiteren Kreisen.
    Schließlich nahm er die Witterung auf und lief dann mit hoher Geschwindigkeit los, die anderen folgten ihm auf der frischen Spur.
    Wegen der Bergkuppe konnte Carl das weitere Geschehen nicht mehr verfolgen. Er wußte zu wenig über Wölfe und Maralhirsche, um beurteilen zu können, wer gewinnen und wer verlieren würde.
    Er war darauf eingestellt, so schnell wie möglich einen Hirsch zu schießen, doch Jurij Tschiwartschew hatte ihn ermahnt, beim Feuern Disziplin zu wahren. Es müsse ein schöner Hirsch mit einer prachtvollen Trophäe sein, sonst werde es einen merkwürdigen Eindruck machen. Niemand fahre bis nach Sibirien, um einen kleinen Scheißhirsch zu schießen.
    Carl hatte keine Gewissensbisse mehr, weil er unschuldige Tiere jagte. Diesmal wußte er, was in der anderen Waagschale lag. Jurij Tschiwartschew hatte deutlich zu erkennen gegeben, daß er sehr konkrete Angaben machen könne, er aber ein bißchen Zeit brauche, bevor er sie Carl anvertraue. Er müsse sich irgendwie erst mit seinem Vertrauensbruch abfinden. Er hatte sogar das Wort Landesverrat verwendet, den er zu begehen im Begriff sei.
    Jurij Tschiwartschew hatte sein Offizierspatent 1951 erhalten, und Carl versuchte sich vorzustellen, was das eigentlich bedeutete.
    Zu jener Zeit war der Kalte Krieg richtig in Gang gekommen. Der Staatschef der Sowjetunion, Jurij Tschiwartschews höchster Vorgesetzter zu Beginn seiner Karriere, war also Josef Stalin gewesen. Carl und Jurij Tschiwartschew hatten Stalin bei ihren Gesprächen kaum erwähnt, was vermutlich hauptsächlich daran lag, daß Carl in Stalins Todesjahr geboren war und diesen nur als eine Art historischen Dinosaurier angesehen hatte, einen Mann wie Caligula, Vlad den Pfähler oder Frankensteins Monstrum. Für Jurij Tschiwartschew, der schon nach einigen Jahren als Offizier zum militärischen Nachrichtendienst übergewechselt war, mußte all dies jedoch sehr real sein, möglicherweise sogar auf ganz persönliche Weise.
    Jurij Tschiwartschew war also schon um die Zeit der größten Erfolge der sowjetischen Spionage beim Nachrichtendienst gewesen. Damals hatten die Sowjets den Bau ihrer Atomwaffen durch den Diebstahl der amerikanischen Kernwaffengeheimnisse beschleunigt.
    Und nun war Jurij Tschiwartschew dabei, sein Land zu verraten, indem er eine russische Auslandsoperation preisgab. Für einen Mann, der seit Josef Stalins Zeiten beim sowjetischen Nachrichtendienst gearbeitet hatte, konnte das keine Kleinigkeit sein.
    Wenn er aber dennoch beabsichtigt hatte, Verrat zu begehen, mußte er gute Gründe dafür haben. Carl vermutete, daß die in London laufende Operation als töricht angesehen werden mußte, von welcher Seite man sie auch betrachtete. Vermutlich war die Führung der Sowjetarmee uneinig über den Sinn der Operation. Für Carl war Jurij Tschiwartschew vor allem ein Offizier der Sowjetarmee, denn Carl war überzeugt, daß sie die einzige der drei früheren Machtsäulen des Imperiums war, die immer noch als intakt gelten konnte. Vielleicht hatte man Jurij Tschiwartschew überstimmt?
    Carl vermutete, daß bei der eigentlichen raswedka mindestens ein Mann Jurij Tschiwartschew übergeordnet sein mußte. Folglich mußten rund zehn Mann in der Führung der Streitkräfte einen höheren Rang haben als er. Manche russischen Generäle gehen erst in einem so hohen Alter in den Ruhestand, daß sie, wenn schon nicht aus anderen Gründen, mindestens wegen ihrer Senilität eine Gefahr für den Weltfrieden darstellen.
    Rußland stand kurz vor einem Bürgerkrieg. Boris Jelzin hatte das Parlament »aufgelöst«. Dieses hatte mit Jelzins »Absetzung« geantwortet und ihn als Präsidenten durch

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