Im Netz der Angst
geriet sie an eine neue Gruppe mit keinem besonders guten Einfluss. Taylor war immer weiter abgestürzt.
Zunächst hatten ihre Eltern das alles nur für eine Phase gehalten, wie damals bei den Spielzeugponys oder den Backstreet Boys. Eines Tages hatte Stacey ihre Tochter jedoch im Bad überrascht, die Schnittwunden auf Taylors Oberschenkeln und Brüsten gesehen und war in Panik geraten.
Orrin Dawkin hatte sich zwar besorgt gezeigt, war aber ruhig geblieben, wenn nicht sogar ein wenig distanziert. Einigen Vätern fiel es schwer, mit ihren pubertierenden Töchtern eine enge Verbindung aufrechtzuerhalten. All diese übersprudelnden Hormone, die aufblühende Sexualität. Das veränderte alles.
Die Fahrstuhltüren glitten auseinander. Aimee sah nach rechts und links, während sie hinaus in den Flur trat. Leer. Kein Wunder, es war ja erst halb sechs morgens. In ihrer Wohnung angekommen, schloss sie die Tür hinter sich ab und legte die Kette vor. Sie war froh darüber, wieder sicher zurück in ihrem Kokon zu sein, und bemerkte, dass die Anspannung im Schulterbereich und im Nacken sofort nachließ, als sie gegen die Tür sackte.
Sich jetzt hinzulegen wäre jedoch sinnlos. Einschlafen konnte sie auf keinen Fall, obwohl sie hundemüde war. Aimee legte ihren Schlüsselbund auf dem kleinen Beistelltischchen neben der Haustür ab und steuerte die Küche an. Ihr Magen war übersäuert, deswegen wurde ihr schon beim Gedanken an Kaffee ganz schlecht. Dann eben Toastbrot, entschied sie. Futter für die Seele. Sie hatte eine Patientin im mittleren Alter, die sich an der für die Sandwich-Generation typischen Doppelbelastung von pflegebedürftigen Eltern und finanziell abhängigen Kindern aufrieb. Diese Frau hatte ihr einmal erzählt, dass sie über ein Dutzend Toasties auf einen Schlag verputzt hatte, nachdem sie ihre Mutter zum wiederholten Male zur Chemotherapie hatte fahren müssen. Die Art, wie sie über die geschmolzene Butter gesprochen hatte, hatte Aimee an Drogenabhängige erinnert, die von Heroin schwärmten.
Einen solchen Butterkick erlebte Aimee zwar nicht, dennoch beruhigte das Weißbrot ihren Magen. Sie setzte Kaffee auf.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie auffahren. Sie schaute durch den Spion. Verdammt, sie hatte vergessen, Simone abzusagen! Aber sie konnte heute unmöglich joggen gehen.
Aimee löste die Kette, den Riegel und ließ ihre Freundin herein.
»Du bist nicht angezogen«, stellte Simone entgeistert fest. Sie selbst trug enge Sporthosen, ein Trägeroberteil und wippte unruhig auf den Zehenspitzen vor und zurück. »Also, ich meine angezogen schon. Aber nicht richtig.«
Aimee lächelte. »Möchtest du einen Kaffee?«
»Sind Cormac McCarthys Romane selbstgefällig und frauenfeindlich?«, fragte Simone zurück und folgte Aimee in die Küche.
»Du musst endlich darüber hinwegkommen, dass er den Pulitzer gewonnen hat.« Aimee nahm zwei Becher aus dem Küchenschrank.
»Nein, muss ich nicht! Daran werde ich für den Rest meines irdischen Daseins zu knabbern haben.« Simone ließ sich seufzend an dem glänzenden Steintresen der Kücheninsel nieder und blickte sich in dem offenen Loft um. »Bei dir ist es immer so aufgeräumt. Ich wünschte, mein Haus wäre so ordentlich und friedlich.«
»Da hättest du wohl besser dran denken sollen, ehe du drei Kinder bekommen und die zwei Hunde bei dir aufgenommen hast.« Aimee goss Kaffee in die Becher und nahm die mit Sahne angereicherte Milch aus dem Kühlschrank.
»Ich wünschte auch, ich hätte deinen Stoffwechsel, sodass ich mir das in den Kaffee schütten könnte, ohne zuzunehmen.« Simone nahm sich dennoch einen großzügigen Schuss von dem Sahne-Milch-Gemisch. Sie war ein gutes Stück kleiner als Aimee und ungefähr fünf Kilo schwerer, doch die befanden sich genau an den richtigen Stellen.
»Ich nehme auch zu.« Aimee setzte sich zu ihr, stützte die Ellbogen auf und legte die Hände über die plötzlich unangenehm trockenen Augen.
»Harte Nacht gehabt?«, fragte Simone.
»Das kannst du laut sagen«, erwiderte Aimee, doch ihre Antwort wurde von den Händen vor ihrem Gesicht gedämpft. »Ein Anruf um zwei Uhr nachts wegen einer Patientin …«
Simone zog die Nase kraus. »So ein Ärger! Ich könnte dir zwar auch eine Menge von den Übeln erzählen, die es mit sich bringt, Manuskripte für den Newsletter des Biologie-Instituts gegenzulesen, aber zumindest gibt es da keine Notfälle mitten in der Nacht. War es sehr schlimm?«
Aimee nickte. »Und
Weitere Kostenlose Bücher