Im Netz der Angst
können, gleichzeitig jedoch vollkommen erschöpft. Als ihr Handy klingelte, war sie froh über die Unterbrechung ihrer trübsinnigen Gedanken.
Sie angelte es aus der Handtasche. »Dr. Aimee Gannon.«
»Dr. Gannon, hier ist noch einmal Josh Wolf von der Sacramentoer Polizei.«
Was glaubte er, wie viele Josh Wolfs sie täglich kennenlernte? »Hallo. Was gibt’s?«
»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass Taylors Tante in Sacramento eingetroffen ist.«
»Sehr gut.« Sie rieb sich über das Gesicht. »Das wird so einiges erleichtern.« Jetzt konnten sie Taylor aus der Notaufnahme holen und an einen geschützteren Ort bringen. Einen Ort, an dem sie sich möglicherweise sicher genug fühlte, um sich aus dem Schneckenhaus zu wagen, in das sie sich zurückgezogen hatte. Aimee hatte Marian Phillips nie persönlich getroffen, aber Taylor schien ihre Tante sehr zu lieben. Sie sprach im selben Tonfall von ihr wie von der Band Good Charlotte . Und das wollte etwas heißen.
»Sie ist schon im Krankenhaus und hatte gehofft, dass Sie auch dorthin kommen könnten, um mit ihr gemeinsam zu überlegen, wie es mit Taylor weitergehen soll.«
»Gern! Ich bin in einer halben Stunde da.« Zumindest hatte sie jetzt eine konkrete Aufgabe. Aimee ließ die Akte zurück auf den Tisch fallen und ging zur Tür.
Bei Tag erschien ihr die Fahrt ins Mercy General in einem ganz anderen Licht. Der McKinley Park wirkte nicht länger bedrohlich, sondern wie ein geeigneter Ort, um dort sein Lunchpaket zu verspeisen. Die Klinik ragte auch nicht mehr wie ein Todesturm über der Wohngegend auf. Es war einfach nur ein Krankenhausgebäude aus Stein, Glas und Beton. Sie sollte ihre Fantasie in Zukunft besser im Zaum halten.
Kurz darauf lief Aimee denselben Flur entlang, an dessen Ende sie Taylor erst vor Kurzem zurückgelassen hatte. Die Detectives Wolf und Jacob standen vor einem zugezogenen Vorhang, um Taylor und ihrer Tante ein wenig Privatsphäre zu lassen. Als Schutzwache war dieses Mal eine Frau eingeteilt: eine untersetzte Blonde mit zwei dünnen geflochtenen Zöpfen und Ponyfransen, die ihr in die Stirn fielen. Als Aimee näher kam, erhob sich die Polizistin.
»Schon gut, Reed«, sagte Wolf und legte ihr seine große Hand auf die Schulter. »Sie ist die Psychologin, auf die Taylors Tante wartet.«
Reed musterte sie kurz und nickte. Jeder hier außer Aimee schien eine Waffe zu tragen.
»Guten Morgen«, grüßte Aimee in die Runde und trat dann durch den Vorhang.
Es machte den Anschein, als hätte Taylor sich kein Stück bewegt, seit Aimee gegangen war. Sie lag noch immer auf der Seite, mit dem Gesicht zur Wand. Ihre Augen waren geschlossen – Aimee konnte nicht sagen, ob sie schlief oder sich nur von der Außenwelt abschirmen wollte.
Die Frau neben Taylor mochte vielleicht Anfang fünfzig sein. Silberne Strähnen durchzogen das dunkelbraune Haar, und um die rot geweinten, verquollenen Augen hatten sich kleine Fältchen eingegraben. Ihre verknitterte weiße Caprihose und der schwarze Pulli mit V-Ausschnitt sahen aus, als wäre sie darin angereist. Als Aimee eintrat, blickte sie von Taylor, der sie gerade den Rücken gestreichelt hatte, zu ihr auf.
»Dr. Gannon?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
»Mrs Phillips?«, sagte Aimee und streckte die Hand aus.
»Nennen Sie mich doch bitte Marian.« Sie ergriff Aimees Rechte mit beiden Händen. »Ich danke Ihnen sehr, dass Sie gekommen sind. Ich weiß überhaupt nicht, was ich mit der armen Taylor anstellen soll, und es gibt so viel zu bedenken. Ich kann überhaupt nicht fassen, dass all das tatsächlich geschieht.« Während sie sprach, begann ihr Kinn leicht zu beben, und die großen braunen Augen füllten sich mit Tränen.
»So etwas ist auch unfassbar«, sagte Aimee und zog einen Stuhl heran, damit sie und Marian nebeneinandersitzen konnten.
»Wie konnte das bloß passieren?«, fragte Marian, deren Wangen inzwischen tränenüberströmt waren. »Wer würde Orrin und Stacey das antun? Wer kann sich so etwas auch nur ansatzweise vorstellen?«
»Ich weiß nicht, Marian. Ich bin selbst ratlos. Es ist schrecklich – aber lassen Sie uns erst einmal beratschlagen, was wir für Taylor tun können, damit sie hier aus der Notaufnahme rauskommt.«
»Zuerst dachte ich, ich könnte sie mit zu mir nach Hause nehmen«, flüsterte Marian, als könne Taylor sie dadurch nicht hören. »Aber die Polizei will nicht, dass Taylor die Stadt verlässt.«
Abgesehen davon, dass sie als suizidgefährdete Person rund um
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