Im Netz der Angst
angeschmachtet, dass Elise dachte, er würde gleich vom Stuhl kippen oder kein Wort mehr herausbringen, so wie Taylor. Doch jetzt war er launisch und mürrisch – also eigentlich nicht viel anders als sonst.
Ihr fiel ein, dass sie Dr. Gannons irgendwie vertraut klingenden Namen überprüfen wollte, also gab sie ihn in einige der Suchmasken ihres Computers ein und scrollte die Ergebnisse hinunter.
Als sie gerade zu einem Bericht wechselte, hörte sie, wie Josh den Hörer auflegte. Er stand auf und beugte sich über die niedrige Trennwand. »Wir treffen Jenna heute Nachmittag. Mit ihrem Dad.«
Elise zog eine Grimasse. »Wir würden mehr aus ihr herausbekommen, wenn wir sie allein sprechen könnten.«
»Solange wir Daddy nicht mitspielen lassen, werden wir überhaupt nichts erfahren. Da hat er sich klar ausgedrückt.« Josh reckte sich. »Sieht so aus, als ob Gannon und Phillips einige Dinge für Taylor aus dem Haus der Dawkins holen möchten. Ich würde sie hinfahren, es sei denn, du möchtest …«
»Nur zu«, sagte Elise.
Josh nickte und machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss, wo die Polizeipädagogin sich gerade mit der Tante und der Therapeutin unterhielt. Elise kaute an ihrem Stift herum und dachte über die Tatsache nach, dass das Mädchen überhaupt ärztliche Hilfe gebraucht hatte.
Taylor war also bereits vor der Tat psychisch labil gewesen. Da konnte Aimee Gannon sie so oft sie wollte als »zerbrechlich« oder sonst wie beschönigend beschreiben. Das Mädchen war offensichtlich nicht ganz dicht. Aber war es auch labil genug, um eine derartige Wut zu entwickeln, dass es seinem Vater den Schädel einschlagen konnte und seine Mutter erdrosselt hatte?
Eine innere Ahnung sagte ihr, dass das nicht sein konnte. Erst recht nicht, was das Erwürgen anging. Elise hatte Josh gesagt, dass sie es für eine typisch männliche Tat hielt, und Doc Halpern hatte ihr zugestimmt … Inzwischen wussten sie jedoch von Taylors Freund und dem gemeinsamen Drogenkonsum. Es wäre nicht das erste Mal, dass hormongebeutelte und rebellische Jugendliche im Drogenrausch einen Mord begingen.
Dennoch war da etwas an diesem Mädchen, das Elise »Opfer!« entgegenschrie. Und nicht »Täter!«. Nicht »Anstifterin zum Mord!«. Mit ein wenig Glück würde Taylor schon bald wieder sprechen. Auf die Tante hatte sie zumindest leicht reagiert: nach ihrer Hand gegriffen und kurz mit der Schaukelei aufgehört. Angeblich war das ein Riesenfortschritt. Elise hatte Gannon gefragt, wie lange es wohl noch dauern würde, ehe Taylor ihre Sprache wiederfand, doch Gannon hatte sich nicht festlegen wollen.
»Vielleicht heute Nachmittag, oder einen ganzen Monat lang nicht. Ich wünschte, ich könnte genauer werden, aber es ist wirklich unmöglich vorauszusagen, wie lange es dauern wird, bis Taylor sich wieder sicher genug fühlt, um mit uns zu sprechen«, hatte sie mit dieser sanften, tiefen Stimme geantwortet.
Elise wollte nicht, dass ihre Kollegen erfuhren, wie oft sie sich auf ihr Gefühl verließ, wenn sie entschied, ob sie einem Menschen vertraute oder nicht. Polizeibeamte interessierten sich nicht für die Ausstrahlung eines Menschen, sondern für Tatsachen und Beweise. Für vor Gericht verwertbare Aussagen. Eine schlechte Aura, die wie giftiger Sirup an jemandem klebte? Damit kam ein Staatsanwalt nicht sehr weit, wenn er vor dem Richter stand. Dennoch hatte Elise ihre Gabe schon dann und wann genützt und ihr den Ruf einer Polizistin mit gutem Riecher eingebracht. Der wiederum galt etwas unter den Kollegen. Unglaublich. Wie, bitteschön, unterschied sich ein guter Riecher von der Wahrnehmung der Energie, die andere Menschen umgab und die sie spüren konnte? Es kam wohl immer darauf an, wie etwas präsentiert wurde.
Elises Gefühl jedenfalls verriet ihr, dass Aimee Gannon in Ordnung war. Unter dieser glatten, ruhigen Oberfläche verbarg sich allerdings ein tiefer Schmerz, dessen war sie gewiss. Vielleicht konnte Josh ja zu ihr durchdringen. Zwar konnte es eine Weile dauern, bis Aimee ihren harten Schutzpanzer ablegte, doch Elise vertraute auf ihren Partner. Wenn er wollte, konnte er sehr entwaffnend sein.
Und sie war ziemlich sicher, dass er wollte. Es war überhaupt nicht seine Art, Zeugen einfach so durch die Gegend zu kutschieren. Er hätte genauso gut einen uniformierten Beamten mit Aimee und Marian zum Haus der Dawkins schicken können.
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. »Hallo, Elise«, meldete sich Clyde Owen, als sie
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