Im Netz der Angst
von Dawkin-Walter-Consulting versammelt hatte, und beobachtete jede Bewegung von Carl. Wie professionell er doch war! Erneut wurde er von Stolz erfüllt, während sein Vater genau den richtigen Tonfall traf, als er Orrins Angestellten die schreckliche Nachricht von dessen Tod überbrachte. Er registrierte, wie geschickt Carl jeder Frage nach der Zukunft der Firma auswich, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Und wie er Orrins persönliche Assistentin tröstete, die in Tränen aufgelöst war – wahrhaft meisterlich! Sean konnte immer noch eine Menge von ihm lernen.
Vielleicht würde doch noch genügend Zeit dafür bleiben. Vielleicht konnte alles so weitergehen wie bisher – doch Sean zweifelte daran. Geheimnisse drangen immer irgendwann an die Oberfläche, und sobald seine erst ans Licht gekommen waren, würde nichts mehr so sein wie zuvor.
4
Aimee blätterte ihre Aufzeichnungen über Taylor und ihre Familie durch, die sie zu Beginn der Therapie angefertigt hatte. Eingangs hatte sie Taylor gefragt, ob sie denn überhaupt wisse, warum sie bei ihr in der Praxis saß.
Taylor hatte den Blick von den leuchtenden Totenköpfen auf ihren Armstulpen gelöst und Aimee unendlich gelangweilt angeschaut. »Woher soll ich das denn wissen? War ja schließlich nicht meine Idee.«
Fabelhaft. Trotz und Angst, präsentiert im Gruftigewand. »Also gibt es nichts an deinem Verhalten, was du irgendwie problematisch findest? Nichts von dem, was du tust, könnte darauf hinweisen, dass du überfordert bist? Oder wütend? Oder traurig?«, hatte Aimee nachgehakt.
»Überfordert womit? Der Schule etwa?« Taylor hatte sich zurück in den Sessel fallen lassen, ihr strähniges, schwarz gefärbtes Haar unterstrich noch die ohnehin schon blasse Gesichtsfarbe.
»Ja, das wäre eine Möglichkeit. Überfordert dich die Schule?« So einfach würde es nicht sein. Das war es nie.
Taylor hatte den Kopf geschüttelt und eine Haarsträhne um den Finger gewickelt. »Die Schule ist ein Witz.«
»Tatsächlich? Warum werden deine Noten dann immer schlechter? Wenn das alles ein Witz ist, sollte es doch nicht so schwer sein, mitzukommen.«
»Es ist bescheuert, langweilig und sinnlos. Warum sollte ich mich da also anstrengen?«, hatte Taylor geantwortet und ihre Haarspitzen inspiziert.
Taylor war garantiert ausreichend über die Vorzüge einer guten Ausbildung belehrt worden, warum also nicht direkt zur Sache kommen? »Taylor, ritzt du dich?«
Das Mädchen hatte sich kerzengerade aufgesetzt und Aimee mit Tränen in den blauen Augen angestarrt. Hatte niemand zuvor mit Taylor ganz sachlich über ihr selbstverletzendes Verhalten gesprochen? Möglich wäre es. Stacey hatte panisch und mit Abscheu reagiert. Orrin war dem Ganzen ausgewichen. Selbstverständlich waren diese Reaktionen von Taylor beabsichtigt, zumindest unbewusst. Sie suchte die Aufmerksamkeit. Sie wollte schockieren. Sie wollte das ganze Familiendrama.
Gleichzeitig konnte sie mit denjenigen, die so auf ihre Selbstverstümmelung reagierten, nicht wirklich darüber sprechen. Taylor brauchte jemanden, der sie anhörte, ohne in eine eigene Krise zu geraten. Aimee könnte dieser Mensch für sie sein. Genau das war ihre Aufgabe, wenn sie Taylor helfen wollte.
»Machst du das, Taylor?«, hatte Aimee weiter auf eine Antwort gedrängt.
Taylor nickte. Sie schluckte einmal, wie um etwas zu sagen, dann noch einmal. Jeder Muskel ihres Körpers schien angespannt.
»Würdest du mir deine Arme zeigen, Taylor?« Aimee hatte sich nach vorne gelehnt.
Taylor zog daraufhin langsam die Ärmel ihrer fingerlosen Handschuhe hinunter, ohne jedoch den Blick von Aimee abzuwenden. Dabei entblößte sie ein Mosaik inzwischen vernarbter, aber auch frischer Schnittwunden. Dann hatte sie angefangen zu weinen.
Aimee klappte die Akte zu. Ob irgendetwas davon für den Fall bedeutsam sein könnte, ließ sich noch nicht sagen. An den Notizen ließ sich hingegen klar ablesen, dass es sich bei Taylor um ein verängstigtes junges Mädchen handelte, das mithilfe einer völlig falschen, schrecklichen Methode seine Probleme zu bewältigen versuchte.
Aimee hatte so ihre Vermutung darüber, was genau Taylor bewältigen musste, sie benötigte jedoch genauere Informationen. In einer solchen Angelegenheit sollte man sich nicht bloß auf Vermutungen stützen. Derartige Anschuldigungen konnten das Leben vieler für immer verändern.
Sie ließ den Kopf nach hinten sinken. Innerlich war sie viel zu aufgedreht, um schlafen zu
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