Im Netz der Meister 2
neben beruflicher Anerkennung auch Wertschätzung in der bürgerlichen Welt. Es war ihr jedoch nur schwer möglich, sich die Grenzen ihrer eigenen Belastbarkeit klarzumachen, sodass es zu einer zunehmenden Fremd- und Selbstüberforderung kam.
Eine Reihe »bizarrer« Ereignisse (Internetbekanntschaften in der SM-Szene, reale Treffen mit Männern aus der Sadomaso-Szene und das Ausprobieren neuer Sexualpraktiken aus diesem Bereich, brutale und für sie verwirrende und erotische Begegnungen) lösten ein emotionales Chaos aus, das sie sich nicht in vollem Umfang eingestehen konnte. Als sie sich auf ein Blind Date einließ und stundenlang von einem Mann gequält wurde, der sich am Ende als ihr Ehemann zu erkennen gab, reagierte sie zuerst mit Erleichterung und Befreiung. Das Paar blieb im Gespräch, verabredete als neue Form der Beziehung eine offene Ehe und begab sich im gegenseitigen Einverständnis auf die Suche nach neuen Sexualpartnern.
Gefühle von Angst, Enttäuschung, Frustration, Eifersucht und zerstörtem Selbstwertgefühl können von Frau S. nicht eingestanden oder anderen Menschen zugemutet werden. Da sie aber nur unter großem Kraftaufwand unterdrückt werden können und trotzdem immer wieder durchzubrechen drohen, ist auch das Selbstbild von der starken, autonomen Frau nicht aufrecht zu erhalten gewesen. So kam es zu einer dauernd erhöhten psychovegetativen Anspannungslage.
Als der Ehemann sich in eine andere Frau verliebte und sich von ihr trennen wollte, kamen Alkoholmissbrauch und exzessive Onlinesucht hinzu. Ihr Geschäft wurde insolvent, ein weiterer Beweis des so empfundenen »völligen Scheiterns«. Zur Reduktion der kognitiv-emotionalen Dissonanz diente auch der extrem erhöhte Nikotinkonsum. Die Vorstellung, dass nun das emotionale Chaos unkontrolliert ausbrechen könnte, erzeugte eine derartige Panik, dass eine Flucht aus der Bürgerlichkeit und aus der Familie ihr als einziger Ausweg erschien. War es so nicht möglich, wenigstens das Gesetz des Handelns teilweise in der Hand zu halten? War es nicht auch ein Versuch, durch das »Opfer« wenigstens die eigene Würde zu wahren?
Nun führte dieser frustrierende erneute Bewältigungsversuch in einen depressiven Teufelskreis aus totaler Erschöpfung, grüblerischen Selbstzweifeln, (bin ich eine Rabenmutter?), Schuldgefühlen und Selbstentwertungen. Der »Suizid-Unfall« wird als einmaliger Ausrutscher und unterbewusst gesteuerter Hilferuf erklärt und sei »ein für alle Mal erledigt«. Sie wäre nicht hier, wenn sie sich nicht helfen lassen wolle.
7
In den nächsten Wochen bemühte Simone sich, Geralds Flirt lockerer zu sehen. Er hatte jedes Recht der Welt, seine Erfahrungen zu machen, so fair musste sie sein. Sie durfte ihm keine Szenen machen, wenn sie ihn nicht verlieren wollte, und sie musste versuchen, Anna realistisch einzuschätzen und nicht als Bedrohung anzusehen: Es passierte ja nicht wirklich etwas. Es war eine Online-Liebelei.
Gerald und Simone saßen sich abends gegenüber, sie konnte ihn sehen, riechen und fühlen, während Anna ihn nur virtuell erlebte. Sie konnte ihm im Vorbeigehen durchs Haar wuscheln, während er, in Jogginganzug, dicken Socken und Schlappen, rauchend, eine Flasche Kölsch trinkend oder ein Butterbrot essend mit Anna mailte. Auch am Wochenende, wenn er unrasiert und ungeduscht schon vor dem Frühstück seine Mails abrief, beruhigte Simone sich selbst: Wenn Anna ihn so sehen würde, wenn sie wüsste, wie er morgens aus dem Mund roch und wie kuschelig er in seinem karierten Schlafanzug aussah, wäre sie sicher nicht »personenbezogen devot«.
Einmal lief Simone rasch zu Geralds Bildschirm, als er zur Toilette gegangen war. Sie las: » Mein liebster Zaubertastenprinz, wie sehr ich Sie spüre, Sie fühlen kann, Sie und Ihre Zauberküsse, Ihre sanftzarten windhauchleisen Umarmungen. Sie schwirren in meinem Herzen, im Kopf, im Bauch, machen ihn blubbern wie als wenn Seifenblasen darinnen ...« Simone stöhnte auf, sie bekam bei solcher Grammatik beinahe Zahnschmerzen. »Ihre Zauberworte machen mich ganz kirre, machen mein Herz rasen und mein Blut köcheln. Morgensmittagsabendsnachtsimmerzu sause ich hierher, suche Ihre Nachrichten und bin nur glücklich, wenn ich sie finde, wenn Sie an mich gedacht haben, mir schrieben und mir Botschaften schickten, die ich aufsauge, wie ein Elixier, wie ein Schwamm, wie eine Dosis Glückseligkeit, nach der Sie mich süchtig gemacht haben ...«
Simone hörte die Klospülung und
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