Im Netz der Meister 2
verriet, dass die 39 Jahre, die sie als Alter in ihrem Profil angegeben hatte, schon lange hinter ihr lagen. Dennoch sah sie klasse aus, und jeder im Raum schien sie anzustarren. Sie trug ein cremefarbenes Kostüm mit weißer Bluse, helle Kroko-Pumps und Perlenschmuck.
Simone suchte ihren Blick, aber Anna wich aus. Gerald küsste ihr die Hand, und Simone glaubte zu spüren, dass er bebte.
»Hehe, so trifft man sich wieder, alles klar bei euch beiden?«
Leo hatte sich dazu gestellt und begann sofort zu plappern. »Schöner Stammtisch hier, hätt ich nicht gedacht, dachte, das wär mehr so was Offizielles, aber hier, nee, echt, schöne Stimmung, gutes Ambiente. Herr Ober!« Der hübsche Kellner kam sofort. »Bringen Se mal ne Flasche Champagner und vier Gläser! Was ham Se denn da? Taittinger? Veuve? Pommery? Moet?«
Der Kellner lächelte bezaubernd: »Tut mir leid, Champagner ist ganz zufällig heute aus, bekommen wir erst morgen wieder rein!«
Ein Mann rief: »Das ist hier ein Bürgerhaus, kein Nobelschuppen!« Der Kellner lächelte noch breiter. Leo rückte seine Brille zurecht, schwenkte den Kopf und sagte: »Na gut. Aber Sekt, Sekt ham Se da, oder?« »Aber selbstverständlich, der Herr«, sagte der Kellner, zwinkerte Simone verschmitzt zu und lief die Wendeltreppe runter. Leo verwickelte Simone in ein Gespräch. Sie hörte nur halb hin, beobachtete Anna und Gerald aus dem Augenwinkel, sah sie lachen, sah Berührungen, sah Blicke, fühlte sich ausgestoßen.
Sie war froh, als der Alterspräsident zu ihr kam und sagte, dass er nun für die Neuen eine kleine Einführung machen wolle. Gerald und Anna waren so in Blicke und Gespräch vertieft, dass sie Dominiks Angebot nicht wahrnahmen, und Leo winkte ab. Er hatte sich Labelle und ihrem Sklaven zugewandt und fachsimpelte mit ihr über Peitschen und Stockstärken. Zusammen mit sechs anderen Leuten, die Simone niemals als »Neue beim Stammtisch« aufgefallen wären, ging sie mit Dominik auf den Flur hinaus. Sollte Gerald doch mit der Scheiß-Anna rummachen, bis ihm die Hose platzte. Er würde mit ihr nach Hause fahren, nicht mit der Elfenmöse, soviel stand fest.
» Erstes Gebot auf unserem SMutzig Stammtisch ist: Frauen dürfen flirten, Männer müssen es!«, hörte sie Dominik scherzen. Seit fünf Jahren gebe es den Stammi schon, die zwanglose Atmosphäre sei gewollt und gewünscht. Jeden Mittwoch treffe man sich hier, im Sommer draußen auf der Terrasse, und man sei immer unter sich. Dresscode gebe es keinen, Anwesenheitspflicht ebenso wenig wie eine Tagesordnung oder anderes Reglement.
»Das soll ein Treffpunkt für SMler sein, an dem man sich ungezwungen kennen lernen kann, ein sicherer Ort fürs erste Date, eine Möglichkeit, um Gleichgesinnte zu finden und Kontakte zu knüpfen.« Simone mochte den smarten »Alterspräsidenten« und nahm sich vor, später mit ihm ins Gespräch zu kommen. Wenn sie zu Beginn ihrer ersten Kontaktversuche diesen Stammtisch gekannt und sich getraut hätte, ihn zu besuchen, wären sicher manche ihrer Dates anders verlaufen, überlegte sie.
Praxis Dr. Armin Wenzel
Chiffre W 23 09 62/ Verhaltensanalyse
In ihrer Lerngeschichte prägten Frau S. unterschiedliche Erfahrungen: Als älteste von drei Schwestern fühlte sie sich oft überfordert. Neben den jüngeren Geschwistern, die nach ihrem Empfinden der Mutter ähnlicher waren und deswegen mehr geliebt wurden als sie, fühlte sie sich nicht wirklich angenommen und dazugehörig.
Frau S. ist davon überzeugt, dass soziale Sicherungssysteme trügerisch sind, hinter den weißen Gardinen gebe es mehr Chaos als Harmonie. Sie glaubt, dass Sicherheit, Anerkennung und Wertschätzung nur für Leistung und die Präsentation eines nach Außen hin attraktiven Bildes zu erhalten seien.
Durch ihre Intelligenz und ihre hochtrainierte Fähigkeit, »aus Zitronen Limonade zu machen« und in der Identifikation mit der starken, weitgehend autonomen Frau gelang es ihr, nach finanziellen Rückschlägen und persönlichen Enttäuschungen schnell wieder aufzustehen und »die Fassade zu renovieren«. Aufgrund ihrer Leistungsbereitschaft, Anpassungsfähigkeit und ihres Strebens nach Perfektion erreichte sie viele Lebensziele. Der soziale Aufstieg durch die Ehe mit dem beruflich erfolgreichen Ehemann, die Töchter, den Besitz des Eigenheims in einer guten Gegend, das eigene Geschäft und ihr Auftreten als Geschäftsfrau, überdurchschnittliche literarische Bildung und der große Freundeskreis bescherten ihr
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