Im Netz Der Schwarzen Witwe
können uns entweder hier treffen oder in der Stadt vor der Bibliothek.“ Sie schaute zum Himmel hinauf. Die hohen Wolken wurden vom pinkfarbenen Licht der untergehenden Sonne angestrahlt. „Sehen Sie nur, wie schön das ist“, bemerkte sie andächtig.
Sie hatte sich halb von ihm abgewandt, sodass er ihr Gesicht im Profil bewundern konnte. Unwillkürlich malte er sich aus, wie glatt ihre Haut sich anfühlen mochte, wenn er jetzt ihre Wange berührte, sie küsste. Ihr Mund war leicht geöffnet, während sie ganz gebannt aufs Meer hinausschaute, wo die in rötlich-oranges Licht getauchten Wolkenfinger fast bis zum Horizont reichten.
John folgte ihrem Blick und sah ebenfalls zum Himmel hinauf. Das Farbenspiel, das jede nur erdenkliche Farbnuance von Pink und Orange hervorbrachte, war tatsächlich beeindruckend. Wann hatte er sich zuletzt die Zeit genommen, einen Sonnenuntergang zu betrachten?
„Meine Mutter liebte Sonnenuntergänge“, sagte er, bevor ihm überhaupt bewusst wurde, dass er sprach. Was erzählte er ihr denn da? Ausgerechnet von seiner Mutter.
Mariah richtete den Blick wieder auf ihn. In ihren Augen lag noch immer dieser sanfte Ausdruck. „Sie sprechen in der Vergangenheit von ihr. Ist sie …“
„Sie starb, als ich noch ein Kind war“, erklärte er und rechtfertigte das vor sich damit, dass er den Ausdruck des Mitgefühls in ihren Augen sehen wollte. Es geht um Serena Westford, ermahnte er sich. Mariah war nur ein Mittel zum Zweck.
Jackpot. Wie erwartet, erschien das Mitgefühl in ihren Augen. Sie war wirklich eine leichte Beute. Er war daran gewöhnt, hartgesottene, vermeintliche Kriminelle zu manipulieren. Verglichen mit denen war Mariah Robinson lächerlich einfach zu kontrollieren. Eine einzige Erwähnung seiner armen toten Mutter – mal abgesehen davon, dass diese Information der Wahrheit entsprach –, und schon war sie beinah zu Tränen gerührt.
„Das tut mir schrecklich leid“, murmelte sie und drückte sogar kurz seine Hand.
„Sie wollte immer nach Key West“, sagte John und beobachtete ihre Augen. „Sie fand es großartig, dass die Menschen auf Key West jeden einzelnen Sonnenuntergang feiern – dass sie stehen bleiben und jeden Abend ein paar Minuten ganz in Ruhe zuschauen. Wow, daran habe ich seit Jahren nicht mehr gedacht.“
Mariah schenkte ihm ein weiteres Lächeln, und da wusste er, dass er sich etwas vormachte, denn es passierte schon wieder. Er erzählte ihr seine Geschichte, nicht Jonathan Mills Coverstory. Er erzählte ihr von seiner Mutter, weil er es gern wollte. Dabei war das Thema in den ganzen zwei Jahrzehnten, die er Tony gekannt hatte, kein einziges Mal zur Sprache gekommen. Und diese Frau kannte er … wie lange? Zwei Tage? Trotzdem erzählte er ihr schon von dem Lebenstraum seiner Mutter.
Sie hatten vorgehabt, sich einen Wagen zu mieten und den ganzen Weg von New Haven nach Key West zu fahren. Aber dann war sie gestorben.
Mariah schwieg und beobachtete den Himmel, während das letzte Licht allmählich verschwand. John fragte sich, wer hier eigentlich wen kontrollierte.
„Haben Sie heute Abend schon etwas vor?“, erkundigte er sich.
Sie wandte sich ab, um ihr T-Shirt aus dem Sand aufzuheben. „Eine Freundin wollte mit mir einen Kneipenbummel machen, aber ich habe abgesagt. Ich stehe nicht so darauf. Außerdem bin ich geschafft. Ich werde unter die Dusche gehen, eine Kleinigkeit essen und dann die Füße hochlegen und ein gutes Buch lesen.“
„Ich sollte mich auf den Weg machen“, meinte John. Er musste wirklich los. Wahrscheinlich handelte es sich bei der erwähnten Freundin um Serena Westford. Und wenn die unterwegs war, tauchte sie heute Abend kaum bei Mariah auf. Er würde morgen wiederkommen, bei Sonnenaufgang, statt in der Abenddämmerung, wenn alles in ein sinnliches Licht getaucht wurde.
„Oh, fast hätte ich es vergessen“, meinte sie. „Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, als ich heute Morgen auf dem Festland war.“
Sie lief zu ihrem Rucksack, den sie am Fuß der Verandatreppe abgestellt hatte. John folgte ihr langsam. Sie hatte ihm etwas mitgebracht?
„Warten Sie eine Sekunde“, bat sie und sprang mit dem schwer aussehenden Rucksack scheinbar mühelos die Stufen hinauf. „Ich will nur schnell das Licht auf der Veranda einschalten.“
Princess folgte ihr nach oben.
„He, was machst du denn hier?“, hörte John sie mit dem Hund sprechen. „Du kannst nicht mit rein. Mein Mietvertrag verbietet Katzen und Hunde. Ich
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