Im Netz Der Schwarzen Witwe
schweigend. Weder aus dem Ausdruck in ihren Augen noch aus ihrer Körpersprache wurde er schlau. Er hatte absolut keine Ahnung, was sie dachte.
„Es ist kalt heute Nacht“, sagte sie schließlich. „Möchtest du nicht hereinkommen?“
Sie drehte sich um und ging ins Haus, ohne auf seine Antwort zu warten.
John wusste ganz genau, dass es besser wäre, sich Princess zu schnappen und auf der Stelle zu verschwinden. Doch all das, was er eigentlich tun sollte, hatte er längst vergessen. Abgesehen davon, hatte Princess sich bereits in einer geschützten, trockenen Ecke der Veranda zusammengerollt. Also folgte John ihr ins Haus und schloss die Tür fest hinter sich.
Nach dem dunklen Strand wirkte es drinnen blendend hell. Offenbar hatte Mariah die Lampen aus den übrigen Zimmern zum Esstisch neben der Verandatür gebracht, sodass dieser Teil des Hauses förmlich glühte. Er ging an den Lichtern vorbei ins schwächer beleuchtete Wohnzimmer.
„Was macht dein Rücken?“, erkundigte er sich verlegen und wünschte, sie würde ihn bitten, wieder zu gehen. Es könnte alles zwischen ihnen viel leichter machen, wenn sie ihn hinauswerfen würde.
„Bestens.“ Sie stand in der Mitte des Zimmers, die Arme vor der Brust verschränkt, und musterte ihn.
„Warum bist du eigentlich um diese Uhrzeit noch wach?“
„Ich konnte ebenfalls nicht schlafen“, gestand sie. „Deshalb habe ich angefangen, Fotos zu sortieren und einzukleben.“ Sie deutete zum Esstisch, auf dem Fotos aller Größen und Farben ausgebreitet lagen, zusammen mit Alben verschiedener Größe.
Im Hintergrund spielte leise Musik, aber es war keine sanfte Musik. Anscheinend hatte Mariah die Lautstärke erst bei Princess’ Gebell draußen reduziert. Eine Slideguitar jammerte über einem schweren Country-Rhythmus. Mehrstimmiger Gesang kam dazu. Der Text handelte von einem Mädchen, das ein Tattoo in der Form des Bundesstaates Texas hatte. John musste grinsen.
„Ich dachte immer, du wärst eher der ruhige Typ“, bemerkte er. „Du weißt schon, wegen deiner Antistress-Übungen und Kristalle. Ich habe dich für jemanden gehalten, der esoterische Musik hört, nicht Country-Rock.“
Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. „Also, bitte. Ich dachte, du kennst mich inzwischen besser. Bei esoterischer Musik schlafe ich ein.“
„Dann sollten wir sie uns vielleicht beide anhören.“
Mariah wandte sich ab und setzte sich im Schneidersitz ans Ende der Couch. Das Licht im Wohnzimmer war gedämpft. Mariah sah geheimnisvoll aus, Schatten fielen auf ihr Gesicht. „Erzähl mir von den Testergebnissen.“
John bewegte sich vom Tisch fort, weiter hinein in die Dunkelheit des Wohnzimmers. Er setzte sich ihr gegenüber in den Schaukelstuhl und räusperte sich, ehe er ihr eine Lüge erzählte. Eine weitere Lüge. Mittlerweile waren es so viele. Zugleich aber hatte er ihr mehr über sich erzählt als je einem anderen Menschen zuvor. All diese Erinnerungen an seine Mutter …
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Mein Bluttest zeigt, dass sich mein Zustand erheblich gebessert hat. Wenn dieser positive Verlauf weiter anhält, gelte ich bald als genesen. Wenn der Krebs innerhalb der nächsten fünf Jahre nicht zurückkommt, bin ich endgültig geheilt.“
Er klang bitter. Er war ja auch verbittert. Denn er wusste nur deshalb so viel über die Hodgkins-Krankheit und die Überlebensrate, weil seine Mutter zu denen gehörte, die nicht überlebt hatten. Auch sie war auf dem Weg der Genesung gewesen. Aber dann war der Krebs zurückgekehrt, und diesmal hatte er gewonnen. Sie war gestorben.
„Fünf Jahre?“, wiederholte Mariah. „Jonathan, du musst aufhören, dir deswegen Sorgen zu machen. Du kannst schließlich nicht die nächsten fünf Jahre nicht schlafen.“ Sie seufzte. „Hast du dir schon einmal überlegt, eine Therapie zu machen?“
Zu gern hätte er sich jetzt neben sie auf die Couch gesetzt. Du lieber Himmel, er begehrte sie so sehr, dass er kaum sprechen konnte.
Warum war er hier? Was machte er hier? Bei diesem Besuch konnte absolut nichts Gutes herauskommen. Nichts weiter als ein paar tröstliche Momente, eine kurze, schnell vorübergehende Pause von der Hölle, zu der sein Leben geworden war. Aber wenigstens diesen Trost konnte Mariah ihm geben. Aber was war mit ihr? Was war mit all dem, was er ihr dafür nehmen würde?
„Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich komme mit der Krankheit zurecht. Für mich ist sie gar nicht real.“ John
Weitere Kostenlose Bücher