Im Netz des Verbrechens
Gott!
06:30
Unter dem Fahrerpult kauert ein Junge. Mein Gott! , denke ich, mein Gott, er ist kaum zehn!
Und nackt. An seinen Gelenken sind Fesselmale, aber sonst scheint er unversehrt zu sein. Todesangst verzerrt sein schmales Gesicht, als er in den Lauf meiner Pistole starrt und sich mit seinen dünnen Armen zu schützen versucht. Seine Züge ähneln ein bisschen dem Mädchen, das im Waggon mit Bolzen an den Boden getackert wurde.
Ich stecke die Waffe weg und sage, dass ich ihm helfen werde. Ich frage ihn nach seinem Namen. In allen Sprachen, die mir einfallen. Leider sind es nicht viele.
Er schaut mich nur mit schreckgeweiteten Augen an. Ich rede auf ihn ein. Ich möchte, dass er mir vertraut. Dass er mir erlaubt, ihn hier wegzubringen. Wenn ich ihn schon lebend finden durfte. Ich denke nicht an das Warum.
06:35
Er murmelt etwas, aber ich weiß nicht einmal, ob es ein Wort ist. Vorsichtig nähere ich mich ihm. Er lässt mich gewähren. Auch, dass ich mich vor ihn hinknie und ihn in meine Jacke wickele.
Er kann gehen. Taumeln. Ich stütze ihn am Ellbogen und führe ihn aus der Kabine. Im Waggon bleibt er stehen, starrt das Mädchen an. Draußen ist es bereits zu hell geworden, als dass die Dämmerung diesen Anblick vor ihm verbergen könnte. Er rührt sich nicht. Wie zu einer Salzsäule erstarrt. Ich sage ihm, dass wir weitergehen müssen.
06:39
Ich sage ihm, dass wir verdammt noch mal hier weg müssen. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich weiß nicht, was um sieben Uhr morgens passieren wird, nur, dass wir dann nicht mehr in diesem Zug sein dürfen. Er rührt sich nicht. Ich lasse ihn kurz stehen und schlage eine der Seitenscheiben ein. Als ich mich umdrehe, sehe ich die Katze in seinen Armen.
Ich schiebe ihn zum Fenster, hebe ihn hoch und lasse ihn vorsichtig nach draußen gleiten. Als er wieder Boden unter den Füßen hat, klettere ich ihm hinterher.
Wir werden noch ein bisschen laufen müssen, um zur Straße zu kommen. Einen halben Kilometer querfeldein. Dafür ist er zu schwach, das sehe ich ihm an. Ich hebe ihn hoch. Er hält noch immer die Katze, sie scheinen einander zu wärmen. Beide zittern.
06:45
Meine Uhr piept. Der Alarm soll mich warnen. Aber in einer Viertelstunde werden wir nicht mehr hier sein. Der Junge wiegt kaum etwas. Ich steuere die Büsche an. Der Boden ist uneben und ich muss mich auf jeden meiner Schritte konzentrieren, um nicht zu stolpern. Der Junge lehnt den Kopf an meine Schulter und schließt die Augen. Ich sage ihm, dass er es schafft, dass ich ihn in Sicherheit bringe und alles gut wird.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich eine Bewegung. Eine Gestalt verharrt links neben den Bäumen und beobachtet mich. Eine dunkle Silhouette. Um an meine Pistole zu gelangen, muss ich den Jungen absetzen – mein Gegner zieht seine Waffe schneller. Ich packe den Jungen an den Schultern, reiße ihn herum, verdecke ihn mit meinem Körper, will ihn nach unten drücken.
Ich höre den Schuss, falle und ziehe den Jungen mit mir. Er liegt halb unter mir auf dem Boden und rührt sich nicht. Ich auch nicht. Aber ich muss aufstehen, sonst wird er unter mir ersticken, ich muss verdammt noch mal aufstehen. Ich höre mein Herz, Schlag um Schlag, mein Herz, das mit jeder Sekunde immer müder wird. Das Zifferblatt meiner Uhr schimmert bläulich. Irgendwo hinter den hohen Grashalmen sehe ich, wie der Zug in Flammen aufgeht und der Rauch zum Himmel aufsteigt.
06:59
Meine Uhr geht nach.
Ich schrecke hoch. Ich weiß nicht, wo ich bin. Der Lenker. Die Windschutzscheibe. Mein Handy auf dem Armaturenbrett.
Ich bin im Auto. Richtig. Der Auftrag. In einiger Entfernung sehe ich den Eingang zu einem Restaurant, der von zwei chinesischen Löwen flankiert wird. Ich reibe mir die Lider und komme langsam zu mir.
Seit Beginn dieser Träume habe ich nicht mehr in einem Bett geschlafen, weil dort die Angst am größten ist. Aber es kann mich auch überall erwischen. Wie hier im Auto. Es gibt für alles coole Wörter – bei mir nennen sie es Flashback. Ich nenne es Albträume. Wenn ich die Lider schließe und auf den Schlaf warte, sehe ich die weit aufgerissenen, toten Augen des Mädchens im Schein meiner Taschenlampe. Ich bin rastlos. Zerrissen. Schon lange kaputt und inzwischen ein Meister darin, es vor anderen zu verbergen. Meistens hoffe ich auf etwas Glück. Dass der Schlaf einer Ohnmacht gleicht.
Gerade eben habe ich kein Glück gehabt.
Mit einer noch unsicheren Hand nehme ich das Telefon. Eine neue SMS:
Sie
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