Im Netz des Verbrechens
aufgesetzt. Irgendetwas geht hier vor.
Ich schaue hinunter und sehe zu, wie sie in meinen Armen einschläft, doch ihre Züge sind alles andere als friedlich.
»Chörst du nikcht?« Oleg wird ungehalten. Nervös. Irritiert, dass jemand ihm nicht gehorcht. Das passiert diesem Mann sonst nie, nicht umsonst steht er jetzt dort, wo er steht.
Auch durch das Hemd fühle ich ihren Atem. Ihr Gesicht ist auf eine stille Art schön. Unverbraucht.
»Diese Frau. Wer ist sie?«
Olegs Züge verhärten sich. Für ihn bin ich nur Fußvolk. Nicht dazu da, um Fragen zu stellen, sondern nur, um seine Befehle auszuführen. Und vielleicht weiß er auch, dass ich mehr will. Zur Spitze der Hierarchie, zu den Autoritäten – zur Krähe selbst. Er könnte mein Weg dorthin werden. Muss es. Nach all der Zeit.
»Ljubopytnoj Warware na basare nos otorwali«, zischt Oleg, rasend schnell, sodass die Wörter, die einzelnen Silben wie Perlen eine Schnur entlang heruntergleiten. Die Drohung ist kaum zu überhören.
Ich lasse die junge Frau aus meinen Armen auf die Rückbank gleiten. Oleg steigt ein. Ihr Kopf baumelt zur Seite, stößt gegen seine Schulter. Das hat mich nicht zu interessieren, aber ich sehe trotzdem hin.
»Fahrr«, poltert Oleg.
Ich setze mich ans Steuer. Ich habe einen Führerschein, der mir erlaubt, alles zu fahren. Auch diesen gepanzerten Minotaur. Oleg schätzt vor allem meine Fähigkeiten, ein Fahrzeug auch mit 100 km/h sicher durch die Innenstadt zu bringen. Ich starte den Motor und drehe den Rückspiegel etwas, um besser zu sehen, was hinter mir vorgeht.
Oleg sitzt da, ohne sich zu rühren, ohne den Blick von der Fensterscheibe abzuwenden. Wir legen ein paar Blocks zurück, als er sein Telefon herausholt und jemanden anruft. »Wsjo w porjadkje. Da. So mnoj.«
Ich schiebe meine Hand in die Hosentasche, ertaste das Handy und drücke die Aufnahmetaste. Doch das Gespräch ist schon zu Ende.
Ein Auto von links schneidet mich und bremst scharf ab. Ich schaffe es gerade noch, den Jeep anzuhalten.
2
Das Mädchen weinte. Es hatte sich in eine Ecke verkrochen und hockte dort, zitternd und leise vor sich hin wimmernd. Wie alt mochte es sein? Sechzehn? Zwanzig? Es war schwer, das Alter ihres eingefallenen, schmutzigen Gesichts zu schätzen. Juna drehte sich zu ihr um, spürte, wie die Kälte des Bodens durch die dünne Matratze an ihre Haut und tiefer drang. Die schmalen Fenster unter dem Dach ließen kaum Licht herein, das milchige Glas war mit Draht verstärkt. Die einzige Tür, die nach draußen führte, war abgeschlossen, und rüttelte man zu sehr an der Klinke, so tönten dahinter Schritte, die einen ihrer Bewacher ankündigte. Er kam herein und schlug zu. Schlug zu, auch wenn man schon am Boden lag.
Das Mädchen weinte.
Die anderen kauerten auf ihren notdürftigen Lagern, die Gesichter starr und teilnahmslos. Zuerst hatte Juna versucht, sie nach Pyschka auszufragen, aber sie redeten nicht mit ihr.
Das Schluchzen wurde heftiger. Juna richtete sich auf und schob sich näher an das Mädchen heran, spürte im Rücken die aufgeschreckten Blicke der anderen.
»Psch, ruhig. Hast du Durst? Ich habe noch etwas Wasser da.« Sie tastete nach ihrem Aluminiumbecher und hielt ihn hoch. Stumpf starrte das Mädchen drein. Aber es schluchzte nicht mehr. Hörte sie Schritte hinter der Tür? Nein, alles ruhig. Noch. Es war unklug, die Aufmerksamkeit ihrer Bewacher auf sich zu lenken, so viel hatte sie bereits gelernt.
»Du kannst gerne trinken, wenn du willst.« Zwei, vielleicht drei Schlucke waren noch drin. Jeder davon kostbar, auch wenn das Wasser abgestanden roch und rostig schmeckte. Durst war etwas Schlimmes. Das wusste Juna nur zu gut. Sie war mit ausgetrockneter Kehle und orientierungslos aufgewacht – und musste die Mistkerle um jeden Schluck anbetteln.
»Nimm ruhig«, sagte sie dem Mädchen, obwohl es kein Russisch verstand. Auch kein Deutsch und nur ein wenig Englisch. Auf die Frage ›Who are you?‹ hatte sie verschreckt gewispert: ›Zdenka‹.
»Nimm schon, ist gut.«
Dünne, knochige Hände schlossen sich um den Becher. Das Mädchen nippte daran und stellte ihn behutsam beiseite. Ein dankbares Nicken, mehr brachte es nicht zustande.
Juna lehnte sich an die Wand und zog die Beine an. Hier und jetzt – einatmen . Hätte und könnte – ausatmen . Sie konzentrierte sich auf ihr Inneres, um ins Gleichgewicht zu kommen, um nicht mehr die fremden Finger auf ihren Wangen zu spüren, die Stimme, die wie ein rauer Hauch
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