Im Notfall Buch aufschlagen: Tipps für alle möglichen Katastrophen (German Edition)
Aussicht!
Die Armee des römischen Generals Lucius Cornelius Sulla hatte im Laufe der Jahre gegen wilde Teutonen gekämpft, gegen die Reiterhorden Kleinasiens und im großen Bürgerkrieg auch gegen die eigenen Landsleute mit anderen Parteibüchern. Die Legionäre hatten sich eine Belohnung wirklich verdient. Sulla siedelte deshalb 2000 seiner Soldaten in dem malerischen Städtchen Pompeji an, das am Hang des Vesuvs lag und bereits in der Antike für die Olivenbäume, Weinreben und die wundervolle Lage an der Amalfi-Küste berühmt war. Für die Veteranen sollte sich die Vorstadtvision von einem Häuschen im Grünen erfüllen, in dem sie ihren Lebensabend genießen können. Einige der Häuser hatten sogar einen Blick aufs Meer. Luxus pur. Der Lebensabend erwies sich dann aber leider als recht kurz.
Am Morgen des 24. August im Jahr 79 n.Chr. verdunkelte eine schwarz-grüne Wolke den ansonsten klaren Himmel. Die schöne Aussicht aufs Meer war verschwunden. Die Einwohner von Pompeji zogen sich in ihre Villen und Mietwohnungen zurück und fühlten sich sicher. In den folgenden 18 Stunden ging ein gewaltiger Sturzregen aus Asche und Bimsstein auf die Stadt nieder. «Es gibt keine Götter mehr», notierte der Chronist Plinius der Jüngere, «das Universum ist in ewiger Dunkelheit verloren.» Einen Tag später war ein Großteil der 10 000 Einwohner tot, erstickt und erschlagen, die Stadt unter einer 25 Meter hohen Ascheschicht verschwunden. Erst 1500 Jahre später wurde das Todesterritorium wieder ausgegraben.
Der Vesuv galt in der Antike als erloschen. Pompeji wurde aber in den Jahren vor dem Ausbruch von mehreren Erdbeben erschüttert. Das hätte die Einwohner misstrauisch machen sollen, denn die Erschütterungen lösten den Gesteinspfropfen über der Magmakammer in acht Kilometer Tiefe. Die Vorstädter waren vermutlich zu beschäftigt mit der Rosenzucht oder damit, selbstzufrieden auf der Veranda zu liegen und aufs Meer zu schauen. Eine Villa am Vesuv galt im alten Rom, das mit Mietskaserne (Plattenbau), Atrium (Loft), Stadtschloss (Architektenhaus in Bogenhausen) und Landgut (Ferienhaus) einen ähnlich strukturierten Immobilienmarkt hatte wie der Spätkapitalismus, als Statussymbol. Wer diesen Blick genießen kann, flüsterten die antiken Makler den Kunden wohl in die Ohren, der hat es geschafft im Leben. Sonne, Wind und Wolken zaubern herrliche Gemälde auf die Leinwand der Luft, dabei vergisst man leider, dass die Lichtstimmung von gewaltigen Naturkräften erzeugt wird.
Der freie Blick auf das Meer und das Vulkanmassiv sollte dem Menschen nicht geheuer sein – das bedeutet ja auch, dass nichts mehr zwischen ihm und der darin gefassten rohen Urgewalt steht. Die schöne Aussicht vernebelt unser Gehirn, stört die Risikokalkulation und führt dazu, dass man sich, wenn man sich eigentlich was Gutes tun möchte, in Gefahr begibt – man kommt der Naturgefahr sozusagen entgegen. Bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte der US-Bundesstaat Florida so gut wie kaum Probleme mit Wirbelstürmen und Hurrikanen. Die Menschen lebten konzentriert im Inneren des Landes. Der wirtschaftliche Aufschwung und die zunehmende Motorisierung der Gesellschaft ermöglichten es in den folgenden Jahrzehnten immer mehr Menschen, in die Außenbezirke und an die Küste zu ziehen – doch der amerikanische Traum vom Beachhouse machte das Land nicht glücklich, sondern angreifbar. Florida ist heute so dicht mit Wohnsilos und Fertighäusern bebaut, dass es schon einen besonders ungeschickten Hurrikan braucht, um keinen Volltreffer zu landen. Im Jahr 1926 erreichte ein Wirbelsturm die Stadt Miami und richtete einen Schaden von einigen hundert Millionen Dollar an. Würde der gleiche Sturm heute aufziehen, müsste man mit einem Schaden von bis zu 90 Milliarden Dollar rechnen. Die Bauherren in gefährdeten Gebieten wie den europäischen Alpen missachten, dass eine Schlamm- oder Nassschneelawine auch schon ganze Dörfer ausgelöscht hat. Auf Sylt spült jeder Orkan bis zu fünfzig Meter Land ins Meer, vielleicht hat man in den Millionärsvillen schon bald nicht nur Seeblick, sondern auch Seekontakt. Die Naturgewalten kennen keinen Standesrespekt.
Auch die Nachfahren der unglücklichen Soldaten des Sulla sind aus dem Schaden nicht klug geworden. Der Vesuv ist seit dem letzten Ausbruch im Jahr 1944 stumm und ruhig. Vulkanologen haben jedoch errechnet, dass der Feuerberg, den Goethe ein hässliches Ungetüm nannte, der «allem
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