Im Paradies deiner Kuesse
horchte tief in sich hinein. Sie wollten Gefühle? Bitte sehr! Davon hatte sie reichlich! Trauer über den Verlust ihrer Mutter. Verbitterung über ihre verlorene Kindheit. Abneigung gegenüber allen, die sie in den letzten zehn Jahren herumgeschubst und – kommandiert hatten. Oh, und nicht zu vergessen: Sehnsucht. Sehnsucht nach dunklen Augen, einem jungenhaften Lächeln und einem Abenteuerleben, das sie niemals haben würde. All das legte sie in ihre Bewegungen, sodass sie sich am Ende des Tanzes völlig ausgepowert fühlte.
Als der letzte Takt verklungen war, löste sie sich aus Stephens Armen und ging zu ihrer Wasserflasche, die bei den Spiegeln auf dem Boden stand. Dann nahm sie ein Handtuch und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.
Schließlich bemerkte sie den prüfenden Blick des Choreografen. „Ich sehe, du bemühst dich, Allegra. Aber ‚gut‘ ist nicht gut genug! Ich will mehr sehen!“ Mit einem Nicken in Richtung des Pianisten fügte er hinzu: „Noch einmal ab dem Adagio!“
Also kehrte sie zu Stephen zurück und begab sich in Position. Ein leichtes Ziehen in ihrem rechten Knöchel kündigte eine Überanstrengung an. Während der Pianist einige einleitende Takte spielte, schloss sie die Augen.
Du kannst das! Du bist erschöpft, aber du schaffst das!
Sie begannen, sich zu bewegen. Doch schon nach wenigen Sekunden wurden sie erneut von Damien unterbrochen.
„Mehr, Allegra! Mehr!“, rief er, während sie sich drehte, in die Luft sprang und auf einem Bein balancierte.
„Noch mehr!“, feuerte er sie an, als Stephen sie hochwarf, in seinen Armen herumwirbelte und wieder absetzte.
Ärgerlich stampfte der Choreograf mit dem Fuß auf. „Mehr sagte ich!“
Ich kann nicht mehr! Mehr habe ich nicht zu geben. Wieso reicht das denn nicht?
Schließlich endete die Musik. Völlig erschöpft sank Allegra zu Boden. Stephen folgte eine halbe Sekunde später ihrem Beispiel.
Kopfschüttelnd beugte Damien sich über sie beide. „Sorry, aber das war schlicht nicht gut genug! Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Allegra. Aber ich hoffe stark, dass du es bis morgen im Griff hast. Oder ich ersetze euch beide am nächsten Samstag durch Tamzin und Valeri. Ich sehe überhaupt nicht ein, wieso meine monatelange harte Arbeit durch eine mittelmäßige Ballerina zunichtegemacht werden sollte! So und jetzt raus aus meinem Studio! Und komm erst wieder, wenn du dich vollkommen auf die Rolle einlassen kannst!“
Auf einmal war er ganz rot im Gesicht. Verwirrt blickte Allegra auf die Uhr. Die Probe dauerte doch noch eine halbe Stunde. Meinte er das wirklich ernst?
„Bitte geh jetzt“, wiederholte er entschieden und wies dabei zur Tür.
Also ging sie. Nachdem sie die Schuhe gewechselt und eine schwarze Leggings angezogen hatte, sammelte sie ihre Sachen zusammen und marschierte aus dem Tanzsaal.
Und sie ging noch viel weiter. Sie verließ nicht nur das Studio, sondern ihr altes Leben.
4. KAPITEL
Allegra konnte kaum klar denken. War sie wirklich gerade aus einem Helikopter gesprungen? Und auf Finn McLeod gelandet? Es musste wohl so sein, denn er beugte sich gerade über sie und hielt ihr lächelnd die Hand hin.
Natürlich nahm sie seine Hand. Wieso auch nicht? Immerhin hatte sie schon seit einer halben Ewigkeit davon geträumt, mit dem Furchtlosen Finn auf einer einsamen Insel gestrandet zu sein. Bis eben war sie sich allerdings nicht sicher gewesen, ob dies nicht vielleicht doch ein Albtraum sein könnte.
Ein dicker Regentropfen fiel ihr auf die Stirn, doch sie nahm ihn kaum wahr. Sie spürte nur das elektrisierende Prickeln, das die Berührung seiner starken, warmen Finger in ihr auslöste.
Händchenhalten mit Finn McLeod! Und das schon am ersten Tag!
Als sie in seine dunklen Augen blickte, wusste sie, dass der Fernseh-Finn nicht halb so attraktiv war wie der echte Finn. Mit ihm an seiner Seite vergaß sie alles um sich her.
Oh, was hatte er gerade gesagt? Anscheinend hatte er ihr eine Frage gestellt. Wieso runzelte er die Stirn?
Auf einmal wurde ihr bewusst, dass er sie am Arm zog. Wahrscheinlich um ihr beim Aufstehen zu helfen. Richtig! Sie sollte jetzt aufstehen. Nicht hier im feuchten Sand sitzen und den großartigsten Mann betrachten, der ihr je begegnet war.
Glücklicherweise hatte sie Übung darin, ihren Körper dazu zu bringen, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte. Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, sprang sie auf.
So, jetzt hatte sie getan, was er wollte, oder? Wieso sah er sie dann
Weitere Kostenlose Bücher