Im Paradies der Suende
sollte sich Notizen machen, Interviews führen, etwas Brauchbares zu Papier bringen. Aber er musste auch zugeben, dass er die Abgeschiedenheit von Paradise Hall durchaus angenehm fand. Sein Redakteur war weit weg und konnte ihn nicht ständig auf den Abgabetermin seines Artikels hinweisen.
Vor ihm tauchte das Anwesen auf, cremeweiß, mit Säulen und Eingangsstufen aus rotem Sandstein. Zwei Gestalten bummelten über den Kiesplatz vor dem Haus - der Lakai Rob und die Zofe Di. Nette Jugendliche aus dem Dorf. Sie verhielten sich ihm gegenüber distanziert, wie sollte es auch anders sein. Er musste an seine Mutter denken. An seinem letzen Geburtstag hatte sie ihr Glas erhoben und mit einer gewissen Schadenfreude gerufen: „Trau keinem über dreißig!“ Er hatte ihr einen schmatzenden Kuss gegeben und sie einen unverbesserlichen alten Hippie genannt.
Er zog seine Uhr hervor. Eine etwas mühsame Angelegenheit, denn in dem engen Jackett konnte er sich kaum bewegen. Glücklicherweise hatte er noch ein paar Minuten, um in die Küche zu gehen und sich etwas Brot und Käse zu holen, bevor die nachmittäglichen Aktivitäten begannen.
Vor seiner Ankunft hatte er sich gefragt, was so ein Gentleman damals den lieben langen Tag getan haben mochte. Jetzt wusste er es: Auf die Reitstunden folgten der Tanzunterricht und das Boxen, dann war es schon wieder Zeit, sich fürs Dinner umzuziehen.
Beim Abendessen würde er wohl auch den neuen Gast offiziell kennenlernen - diesmal mit geschlossener Hose. Plötzlich erinnerte er sich an ihren Namen. Louisa Connolly, so hieß die Blondine. Peter und Chris, die sie „Lou“ nannten, hatten ihm von ihr erzählt. Die beiden waren ihr bei einer Jane-Austen-Konferenz in den Staaten begegnet. Sie war die historische Beraterin von Paradise Hall. Irgendwo in seinen Unterlagen würde er ihren Lebenslauf finden.
Wie aufs Stichwort erschien Chris zwischen den Säulen und kam die Stufen herab. Er sah beeindruckend aus. Seine Hose war so eng, wie es nur ging, seine Weste grellbunt gestreift. Der Hausherr blieb stehen, plauderte mit den beiden Dienstboten und rückte Robs Kragen zurecht. Typisch Chris, immer fasste er jemanden an und flirtete, während dem armen alten Peter nichts anderes übrig blieb, als sein Treiben aus der Ferne zu beobachten.
Und in diesem Haus gab es sehr viele Leute, die man anfassen und mit denen man flirten konnte - ganz egal, ob man nun auf Männer oder auf Frauen stand … oder gar auf beide Geschlechter.
Lou
Ein Korsett zwingt einen dazu, gerade zu stehen. Das war noch längst nicht alles. Lou konnte sich kaum bücken, und ihre Brüste wurden durch das unbequeme Kleidungsstück lächerlich hoch hinaufgeschoben. Wie Äpfel auf einem Tablett sahen sie aus. Zudem hatte sie ein beutelförmiges Täschchen, „Pompadour“ genannt, bekommen, einen Sonnenschirm und einen Hut, der ständig von ihrem Kopf zu rutschen drohte. In dünnen Schuhen, die sie an den Ballettunterricht in ihrer Kindheit erinnerten, musste sie über den Kiesweg von Vivians Pförtnerhäuschen zum Haupthaus gehen. Auch die Haltung war wichtig - Schultern zurück, Kopf hoch, nicht auf die Füße hinunterschauen. Aber das war wegen der idiotisch hochgeschnürten Brüste ohnehin unmöglich. Busen , so lautete das richtige Wort. Jetzt hatte sie einen Busen.
Sie war nie der Typ gewesen, der stundenlang am Strand lag. Jetzt, als vornehme Lady, musste sie ganz besonders darauf achten, ihre zarte, helle Haut nicht der Sonne auszusetzen. Deshalb war sie dankbar für den Schirm und das Brusttuch, das sie in ihren Ausschnitt gestopft hatte, um ihr Dekolleté zu schützen. Nur gut, dass sie nicht so gebräunt war wie die meisten Rancherinnen aus Montana, weil sie sich täglich mit Sunblocker eingecremt hatte.
Immerhin war das Kleid ein Traum: feinste Baumwolle, hellblau-weiß gestreift, von schlichter Eleganz. Der Rock schwang bei jedem Schritt um ihre Beine und machte dabei ein leise raschelndes Geräusch, das wie ein verführerisches Wispern klang.
Im Licht der Spätnachmittagssonne wirkte das Anwesen einladend und zugleich sehr imposant. Hatte Jane Austen hier wirklich einmal gewohnt? Chris und Peter gaben sich große Mühe, diesen Mythos am Leben zu halten. Seit der Zeit der großen Schriftstellerin hatte das Haus immer wieder den Besitzer gewechselt. Jeder von ihnen hatte Restaurierungen vornehmen lassen. Mauern waren abgerissen und Fußböden erneuert worden. Lou bezweifelte, dass es noch irgendwo neue Beweise
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