Im Profil des Todes
gewesen. Selbst wenn sie
gearbeitet hatte, war Logan nie weiter als fünf Minuten entfernt gewesen.
Sie durfte sich nichts vormachen. Nicht wegen des Alleinseins empfand sie die Kälte, vielmehr war es Angst und Nervosität. Sie war im Grunde genauso unsicher wie Joe, wie sie darauf reagieren würde, den Schädel in der Hand zu halten. Ob sie in der Lage sein würde, das Entsetzen auszublenden und ihre Aufgabe professionell zu erfüllen.
Natürlich würde sie das. Sie war es Bonnie schuldig.
Oder wer auch immer das kleine Mädchen sein
mochte. Sie durfte nicht davon ausgehen, dass es
Bonnie war, sonst könnten ihr Hände und Verstand
einen Streich spielen. Sie musste den Schädel völlig unvoreingenommen betrachten.
Zerknirscht fragte sie sich, ob sie dazu jemals in der Lage gewesen war. Jede Rekonstruktion eines verlorenen Kindes war ihr ans Herz gegangen und am Ende
fühlte sie sich jedes Mal gefühlsmäßig ausgelaugt.
Doch diesmal musste sie ihre Emotionen in besonderem Maße kontrollieren. Auf keinen Fall durfte sie in dieses dunkle Loch fallen.
Sie musste sich beschäftigen und nicht daran denken, was sie erwartete. Sie nahm das Telefon und wählte Logans Handynummer. Niemand ging dran. Lediglich
die Mailbox schaltete sich ein.
»Hallo, Logan, ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich in Joes Hütte bin. Mir geht's gut und morgen soll ich den Schädel bekommen. Ich hoffe, bei dir ist alles in Ordnung. Pass auf dich auf. « Sie legte auf.
Dass sie Logan nicht erreicht hatte, verstärkte noch ihr Gefühl, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Das sichere, heile Leben mit Logan schien ihr schon jetzt unendlich weit entfernt und die Entfernung vergrößerte sich mit jeder Minute.
Herrgott noch mal, sie durfte sich nicht verrückt machen. Sie würde einen Spaziergang am See machen,
damit sie müde wurde und schlafen konnte.
Die Kleidung in ihren Koffern war für die Tropen gemacht, deshalb ging sie in Joes Schlafzimmer und holte sich Jeans und ein Flanellhemd. Sie schlüpfte in ihre Tennisschuhe und Joes Windjacke und eilte die Stufen hinunter.
Sie war allein. Dom beobachtete Eve Duncan, wie sie mit forschen Schritten den Fußweg zum See
hinabging. Sie hatte die Hände in die Jackentaschen geschoben und die Stirn leicht gerunzelt.
Sie war größer, als er sie in Erinnerung hatte, wirkte jedoch äußerst zerbrechlich in der viel zu großen Jacke. Doch sie war nicht zerbrechlich. Das konnte er an ihren Bewegungen ablesen und an der Art, wie sie das Kinn vorreckte. Stärke hatte häufig mehr mit dem Geist als mit dem Körper zu tun. Er hatte schon Opfer gehabt, von denen er geglaubt hatte, sie würden sich auf der Stelle ergeben, die sich dann aber doch erbittert gewehrt hatten. Sie war auch so ein Fall.
Das Täuschungsmanöver am Flughafen war unter-
haltsam gewesen, aber er war schon zu lang im Ge-
schäft, als dass er sich davon hätte beeindrucken lassen. Er hatte längst gelernt, dass man dem Gegner immer einen Schritt voraus sein musste, wenn man
seinen Lohn einstreichen wollte.
Und dieser Lohn lag nun in Reichweite. Nachdem er den Aufenthaltsort von Eve Duncan in Erfahrung gebracht hatte, konnte das Spiel losgehen.
GEORGIA STATE UNIVERSITY
» Morgen, Joe. Kann ich Sie kurz sprechen? «
Joe straffte die Schultern, als er den hoch gewachsenen Mann erkannte, der sich aus dem Schatten der
Mauer des Science Building löste. »Ich beantworte keine Fragen, Mark. «
Mark Grunard lächelte verbindlich. »Ich sagte sprechen, nicht fragen. Andererseits, wenn Sie das Bedürfnis verspüren, sich zu öffnen und ... «
»Was machen Sie hier?«
»Es gehörte nicht viel Fantasie dazu zu wissen, dass Sie hier auftauchen, um den Schädel zu holen. Ich bin bloß froh, dass meine Journalisten-Kollegen damit beschäftigt sind, Eve Duncan ausfindig zu machen. Dadurch habe ich Sie ganz für mich allein. «
Joe verfluchte im Stillen das Polizeirevier von Atlanta, weil sie den Aufbewahrungsort des Skeletts bekannt gegeben hatten. »Zu früh gefreut. Es gibt keine
Geschichte, Mark. «
»Haben Sie was dagegen, wenn ich Sie zu Dr.
Comdens Büro begleite? Danach verschwinde ich auf der Stelle. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unter-breiten.«
»Worauf wollen Sie hinaus, Mark? «
»Es wäre zu unserem beiderseitigen Nutzen.«
Er ging neben Joe her. »Wollen Sie's hören?«
Joe musterte ihn. Mark hatte ihn immer schon mit
seiner Aufrichtigkeit und Intelligenz beeindruckt. »Ich höre.
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