Im Rachen des Alligators
Geschlechtsverkehr zu haben und keinen Oralverkehr hinten im Schulbus, was gerade angesagt war, den Abfall zu trennen und zu essen, was man auf dem Teller hat – das alles war wie ausgelöscht.
Im Fernsehen war in schneller Schnittfolge zu sehen, wie eine Abrissbirne in Zeitlupe in ein New Yorker Mietshaus krachte, in ein Hotel in Bombay und zuletzt in ein Hochhaus in Paris, worauf die Gebäude sich jeweils zu Boden neigten wie Bittsteller vor dem japanischen Kaiser.
Was Beverly wirklich ankotzte, war die dumpfe Phantasielosigkeit der Tat.
Zügellosigkeit hätte sie verzeihen können; Selbstgerechtigkeit kotzte sie an.
Es war eine vorsätzliche, dumme Tat, und Colleen war erwischt worden.
Beverly hatte allein am Esstisch gesessen und Heidelbeerwein getrunken, als Wellen hellroten und blauen Lichts über die Glastüren der Kirschholzvitrine zu laufen begannen. In ihrer Einfahrt stand ein Streifenwagen. Es war später Nachmittag, und der Beamte, der auf der Fahrerseite ausstieg, trug Sonnenbrille und Pistole. Begleitet wurde er von einer kleinen Frau mit molligen Hüften und herzförmigem Gesicht.
Beverly hatte den Wagen in die Einfahrt biegen sehen, und es gab einen gedehnten Moment, in dem es möglich schien, dass sie einfach nur nach dem Weg fragen wollten. Colleen war übers Wochenende bei einer Freundin. Jennifer Galway hatte sie eingeladen. Jennifers Mutter und Beverly spielten zusammen Bridge.
Sie sah die Polizeibeamten und stellte sich vor, wie Colleen schlafend auf dem blau und mauve gemusterten Flauschteppich in Jennifer Galways Hobbyraum in Mount Pearl lag. Eine Holzschale mit Chips, ein paar zerdrückte Getränkedosen; sonst nahmen die ja nichts zu sich. Auch die anderen Mädchen, Sherry Ryan und Cathy Lawrence, sie alle lagen schlafend dort in dem düsteren renovierten Kellerraum, in dem es nach alten Turnschuhen, Zigarettenrauch und Feuchtigkeit roch. Beverly versuchte mit aller Macht, sich vorzustellen, wie Colleens dunkles Haar über den Nylonschlafsack raschelte, wenn sie in dem trüben Morgenlicht, das durch das schmutzige Kellerfenster hereinfiel, den Kopf drehte, und im nächsten Moment wusste sie, dass ihre Tochter nicht dort war. Sie hatte nicht bei Jennifer Galway übernachtet. Sie hatte nicht, nicht, nicht bei Jennifer Galway übernachtet. Colleen hatte Jennifer Galway seit Monaten nicht mehr erwähnt, erst jetzt wieder, als sie sagte, dass sie bei ihr übernachten werde. Beverly hatte sich sehr darüber gefreut.
Der Polizist zog einen kleinen Block aus der Brusttasche, blätterte ein paar Seiten um und musterte dann die Hausfassade. Beverly nahm sofort an, dass Colleen tot war, doch zugleich glaubte sie nicht, dass das sein konnte.
Wenn Colleen nicht tot war, warum kamen dann gerade zwei Polizisten auf ihr Haus zu? Colleen konnte nicht tot sein, denn Beverly konnte nicht ohne sie leben.
Beverly betrachtete das Leben nicht als eine Folge von Tagen, in denen sich mindere Dramen, vereinzelte Tragödien, kleine Freuden und mühsame persönliche Errungenschaften aneinanderreihten, so wie es ihrer Vermutung nach die meisten Leute taten, sondern vielmehr als einen Zustand der Stille, der durch gelegentliche Eruptionen von Chaos unterbrochen wurde.
Es war die letzte Flasche von dem Wein, den David noch kurz vor seinem Tod abgefüllt hatte. David war ein kleiner, pummeliger Mann mit feinem, silbergrauem Haar gewesen, und er hatte eine Menge Manschettenknöpfe besessen. Beverly hat eine braune Samtschachtel mit schwergängigem Scharnier unter ihrem Kopfkissen liegen. Vor dem Einschlafen schüttelt sie die Schachtel immer ein wenig, horcht nach dem Klappern der Manschettenknöpfe.
David hatte Manschettenknöpfe geliebt. Schöne Details waren ihm wichtig, gute Seifen, schwere Serviettenringe. Er hatte sich morgens immer Augengel auf die Unterlider geschmiert, weil es sich schön kühl anfühlte und ihm half aufzuwachen. Wenn er sich die Zehennägel schnitt, stellte er dazu den Fuß auf die Klobrille. Der Wein war erstaunlich gelungen, dafür, dass er selbstgemacht war. Der Trick bestand darin, echten Fruchtsaft zu verwenden. David hatte die Heidelbeeren selbst zerdrückt, mit den Fingerknöcheln. Am meisten fehlten ihr seine Marotten. Diese seltsame Kombination von Eigenschaften, die sie bei niemand anderem finden würde. Sie wollte niemand anderen.
Der Wein war stark, von Schwebstoffen und den vier verlorenen Sommern erfüllt. Sie hatte die Flasche für eine besondere Gelegenheit aufgehoben.
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