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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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auf Ledersofas hingewiesen, sie hatte einen Prospekt in die Finger bekommen. Sie war kurz zur Kaffeemaschine gegangen, wo die Sekretärin gerade die Kaffeesahne nachfüllte. Sie waren fast um die Hälfte reduziert, die Sekretärin hatte doch gesagt, sie sei auf der Suche nach einem neuen Sofa, und diese Sofas waren eine echte Gelegenheit, ein Schnäppchen.
    Sie ging wieder in ihr Büro, schloss die Tür mit dem Fuß, und dann stand sie da und wunderte sich, wie dunkel es in der Zwischenzeit geworden war. Sie hörte den Rest der Abteilung faxen und drucken und von einem Arbeitsplatz zum anderen telefonieren – die schale Betriebsamkeit der boomenden Tourismusbranche, in der sie seit zwanzig Jahren arbeitete –, doch allein hinter ihrer Bürotür verspürte sie eine überwältigende Orientierungslosigkeit. Der Raum war finster, mitten am Nachmittag. Die Gegenstände im Dunkeln waren unscharf, ihr Füllfederhalter, die Schneekugel aus Banff, ihre Winterstiefel, die übereinandergeneigt auf einer Gummimatte trockneten, alles schemenhaft, kaum erkennbar.
    Es war später, als sie dachte.
    Es musste deutlich später sein.
    Normalerweise schaltete sie die Deckenlampe nicht ein, doch in der Zeitspanne, in der sie ihren Kaffee geholt hatte, war es still und dunkel geworden. Sie fühlte sich desorientiert, hätte kaum sagen können, welches Jahr gerade war, wie alt sie war.
    Sie hätte zwanzig sein können, mit dem Fahrrad rasant bergab unterwegs, die Augen wegen des Windes zusammengekniffen. Sie erinnerte sich an einen Rock, den sie mit zwanzig gehabt hatte, an braune Kniestrümpfe, der Wind bauschte ihren Rock, sie war auf dem Weg zu ihrem damaligen Freund. Sie kam an, und da stand er, Darren Jones, mit einem Gartenschlauch in der Hand. Sie öffnete den Riegel des Gartentors, ein feiner Sprühregen schimmerte in allen Regenbogenfarben, spätnachmittägliche Sonnenstrahlen, und ein Mann, den sie kaum kannte – ein Junge noch, wurde ihr in dem dunklen Büro bewusst –, und in den sie verliebt zu sein meinte.
    Das war keine Liebe, sagt sie laut zu sich selbst.
    Sie schaltete das Deckenlicht ein, und plötzlich war alles schmerzhaft präsent und glasklar. Sie war fünfundfünzig und bereits verwitwet. Sie ging wieder hinaus, um ihrer Sekretärin zu erzählen, dass es gerade Ledersofas im Sonderangebot gab.
    Der Wein schmeckte wie das, was er war: selbstgemachter Wein, zu süß, zu stark. Sie hatte mit einer Heimsuchung gerechnet. Der Wein haute rein wie nichts.
    Der Wind riss ihr die Aluminiumtür aus der Hand und knallte sie gegen das schmiedeeiserne Geländer, es klang wie ein Gongschlag. Der Polizeibeamte fragte sie, ob sie die Mutter von Colleen Clark sei. Beverly sackte gegen den Türrahmen, und ihre Augäpfel drehten sich nach hinten. Der Mann erwischte sie gerade noch am Ellbogen, ehe sie zu Boden fiel.
    Ich habe losgelassen, schrieb sie Madeleine in Gedanken, als sie mit dem Kopf zwischen den Knien neben dem Esstisch saß. Die Polizistin entrollte die Yogamatte, die an der Wand gelehnt hatte, und Beverly musste sich darauflegen. Dann hob sie Beverlys Beine an und stützte die kalten Füße gegen ihre Brust.
    Ich bin völlig mutlos, sagte Beverly.
    Dann fassen Sie mal schön wieder neuen Mut, sagte der Polizist.
    Sie war schnell zu sich gekommen, doch jetzt war sie schweißgebadet und fröstelte. Sie hörte: Vandalismus, hörte: Bulldozer. Offenbar war Colleen unversehrt. Es hatte einen Autounfall gegeben, und ihre Nase hatte ordentlich was abbekommen, aber mehr nicht. Die Nase war nicht einmal gebrochen. Sie hätte mindestens eine gebrochene Nase verdient, dachte Beverly. Gott sei Dank war ihrem hübschen Näschen nichts passiert.
    Der Polizist war in der Küche und suchte nach einem Glas. Er kam mit einem Bierkrug voll Orangensaft mit Eiswürfeln wieder heraus.
    Elektrolyte, sagte er, und Beverly machte die Augen zu und sah ein Feuerwerk hinter ihren Lidern. Sie stellte sich vor, wie sie ihre Tochter umbrachte. Sie stellte sich vor, wie sie ihr die Hände um den Hals legte und fest zudrückte. Sie stellte sich vor, wie die Knorpel von Colleens Luftröhre unter ihren Daumen zerknackten. Wie konnte Colleen es wagen, sie so zu erschrecken?
    Colleen hatte von Ökoterrorismus geredet, aber Beverly hatte nicht zugehört. Colleen hatte davon geredet, die Welt zu verändern, von der Not der Tiere, der Umwelt, dem Atommüll, der Welthandelsorganisation. Sie hatte von Seattle geredet, von Quebec. Sie hatte sich über all das

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