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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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ausgelassen, aber Beverly hatte nicht zugehört.
    Hörst du mir zu?, hatte Colleen immer wieder gefragt.
    Beverly hatte von neuen Schuhen geredet.
    Wir sollten dir ein Paar richtig schöne Schuhe besorgen, hatte Beverly gesagt.
    Sie ist ja noch minderjährig, sagte der Polizist, insofern hat der Kläger keine Möglichkeit, Schadensersatz zu fordern. In diesem Moment kam die Sonne heraus und traf auf die Prismen an Beverlys Fenster, sodass ein Regenbogen auf der Wange des Polizisten erschien, und ein weiterer vorn auf seinem blauen Hemd. Der Humpen Orangensaft in der Hand des Polizisten leuchtete im Sonnenlicht wie ein loderndes Feuer.
    Ich habe auch eine Tochter, sagte die Polizistin. Die machen einem nur Ärger.
    Colleen war eigensinnig und bezaubernd. Sie war über Nacht schön geworden, große blauen Augen, volle Lippen, langes, glänzendes Haar. Ihre maßlose, bebende Empathie, ihr Beharren auf Gerechtigkeit im Leben. Sie duldete kein Unrecht, ertrug es nicht. Beverly hatte erlebt, wie ihr wegen Nichtigkeiten das Blut in die Wangen schoss, Tränen in die Augen stiegen, wegen der Kränkung eines Mitschülers oder einer Mitschülerin etwa – ein von Akne verunstaltetes Mädchen, das gehänselt, ein Schüler, der übergangen wurde, ein anderer, der arm war, Klassenkameraden, die ohne Mittagessen auskommen mussten. Und dann die Tiere. Sie hatte die empörend ungerechte Behandlung von Tieren nie hinnehmen können, die Hühnerfabriken, Kühe, die zur Schlachtbank geführt wurden, selbst Fische. Als Vierjährige hatte sie sich in eine unbändige Wut hineingesteigert, als Beverly einen toten Goldfisch die Toilette hinunterspülte. Die Würdelosigkeit dieser Bestattung war ihr unerträglich, die kleinen Fäuste, ganz weiß, in die Seiten gestemmt, stampfte sie mit ihrem Füßchen auf den Badezimmerboden.
    Wie haben Sie sie denn erwischt?, wollte Beverly wissen. Das Schlimmste war, nach Strich und Faden verraten worden zu sein – und sich so alt und verwirrt zu fühlen. Erschreckend töricht fühlte sie sich.
    Ein Mann, der sie ein Stück im Auto mitgenommen hat, hat uns angerufen, sagte der Polizeibeamte. Die Prismen lenkten ihn ab. Er schnipste mit dem Finger gegen eines der länglichen Kristalle.
    Sie hat ihren Rucksack am Tatort liegen lassen, sagte er. In dem haben wir die Adresse gefunden. Ein Regenbogen huschte über die Wand wie ein junger Schmetterling.
    Sie wird vor Gericht erscheinen müssen, sagte er. Ihre Tochter muss erklären, dass sie ihre Tat bedauert, und dann kann eine Diversion beantragt werden, das heißt, eine Umleitung vom Strafverfahren.
    Umleitung, sagte Beverly. Sie dachte an Flüsse in der Dritten Welt, die zur Gewinnung von Wasserkraft umgeleitet wurden, an überflutete Ebenen, Vögel, die ihre Nester verlassen, und ganze Dörfer, die mit Sack und Pack umsiedeln mussten. Sie hatte das mal auf dem Dokusender gesehen.
    Wir haben ein sehr gutes Diversionsprogramm, sagte die Polizistin, die Jugendlichen leisten gemeinnützige Arbeit.

Colleen
    Nach Davids Tod hatte Beverly an drei aufeinanderfolgenden Tagen Sandwiches ohne Rinde für das Bestattungsinstitut zubereitet. Colleen weiß noch, wie Beverly sich über das Waschbecken beugte und Wimperntusche auftrug, das Auge ganz nah am Spiegel, der Mund geöffnet. Sie zog das verfilzte Haar aus der Bürste und bewegte die Finger hin und her, sodass die Haare in die Toilette fielen. Es waren die üblichen Gesten des Sich-Herrichtens. Hysterie würde es nicht geben – aus irgendeinem Grunde hatte Beverly beschlossen, vollkommen intakt zu erscheinen.
    Ich bin noch intakt, hatte sie gesagt.
    David war tot, aber sie trug Wimperntusche auf.
    Im Bestattungsinstitut umfasste sie die Hände der Besucher und hielt sie fest. Colleen sah, wie sie zur Bekräftigung dieser oder jener dargebrachten Erinnerung die jeweilige Hand noch fester drückte.
    Madeleine stand die ganze Zeit hinter Beverly, dirigierte Freunde zum Sarg, brachte ihr Tee, fasste sie ab und zu am Oberarm, wie um sie zu stützen.
    Spät am letzten Nachmittag der Totenwache war Colleen ihrer Mutter in die Toilette des Bestattungsinstituts gefolgt und hatte sie mit hängendem Kopf am Waschbecken stehen sehen, die durchgestreckten Arme aufgestützt, die Fingerknöchel weiß. Das Wasser lief, womöglich hatte sie sich gerade übergeben. Sie warf das Haar nach hinten, und dann standen sie da, Mutter und Tochter, und schauten einander im Spiegel an.
    Sie waren vollkommen still, lösten den Blick nicht

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