Im Rachen des Alligators
für sie verkaufen wollte. Sie hätte bereits vor einer Viertelstunde da sein sollen.
Die Frau war seit Monaten auf Oxycodon, und er vermutete, dass sie am Ende des Sommers tot sein würde. Er war beeindruckt, wie lange sie schon durchhielt. Sie mochte einmal schön gewesen sein, doch nach diesem Dauertrip war sie knochig, abgezehrt und gelbsüchtig. Er wäre durchaus mit ihr ins Bett gegangen, aber sie war launenhaft und geistesabwesend. Und er hatte festgestellt, dass er von einer Frau, mit der er schlief, Zugewandtheit erwartete. Es war schlicht eine Frage der Höflichkeit, die ihm in jungen Jahren nicht wichtig oder gar nicht bewusst gewesen war.
Valentin hatte ausgeprägte Augenbrauen und breite Wangenknochen. Große rostbraune Augen und einen schiefen, aber sinnlichen Mund. Er begutachtete sich jeden Morgen beim Rasieren, betrachtete sich mit kaltem Blick, doch er fand immer wieder, dass er gut aussah.
In seiner Jugend in Russland war Valentin Schachmeister gewesen. Wenn sein Mädchen nicht auftauchte, spielte er eine Runde Schach. Er besaß eine bestimmte Art von Schläue, die typisch für die Alte Welt war, ein Talent zur Flexibilität.
Er wusste, dass er wie der Inbegriff europäischer Kultiviertheit aussah, wenn er mit aufgestützten Armen vor einem Schachbrett saß. Er trug eine grüblerische Miene zu Schau. Es kostete ihn wenig Mühe zu gewinnen. Er mochte das Gefühl, Zuschauer zu haben. Ihm gefiel es, dass sie nichts sagten, zwischendurch davonschlenderten und später wiederkamen, um zu schauen, wie sich das Spiel entwickelt hatte. Er mochte die gutmütigen Verlierer, die ihm die Hand gaben oder auf die Schulter klopften.
Flexibilität bedeutete, alle Aspekte einer Erfahrung gleichsam prismatisch zu erfassen. Ein intuitiver Schub, der die Komplexität einer Situation auflöste und klar hervortreten ließ, was wichtig war. Gründlichkeit war für ihn das Allerwichtigste.
Er war in Ländern unterwegs gewesen, in denen der Preis eines Laibes Brot innerhalb der Zeit, die er brauchte, um das Brot zu essen, in die Höhe geschnellt und wieder gesunken war. Er hatte gesehen, wie ein Jeep in die Luft geschleudert, wie Beine von Leibern abgerissen wurden.
Er hatte gesehen, wie man seinen Vater aus dem Bett zerrte, auf die Knie zwang und von hinten in den Kopf schoss. Es war eine Nacht, die oft in seinen Träumen wiederkehrte. Er hatte es nicht wirklich gesehen, er hatte es durch ein offenes Fenster gehört. Oder es war ihm erzählt worden. Seine Schwester hatte es ihm flüsternd berichtet, als er schon halb schlief, er hatte die Nachbarn davon reden hören. Ein paar Worte hie und da, so lebendig, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, was er selbst gesehen und was er erzählt bekommen hatte.
Wie sein Vater sich in den Schlamm kniete, das meint er mit eigenen Augen gesehen zu haben, erst das eine Knie, dann das andere, der kleine Lichtkreis einer Taschenlampe tanzt auf dem weißen Nacken, wird diffus und schweift in die Baumkronen. Doch an einen Schuss erinnert er sich nicht.
Valentin und seine Schwester hatten sich unter einem Bett versteckt, das weiß er noch, und der Geruch von Mottenkugeln ruft ihm diese Nacht immer ganz deutlich vor Augen, obwohl er damals erst drei war und obwohl er das Ganze möglicherweise verschlafen hat. Das Wort Mottenkugel hat er noch nie irgendwo geschrieben gesehen, er weiß nicht einmal, woraus die Dinger bestehen. Vielleicht sind Mottenkugeln etwas Natürliches, vielleicht kommen sie in der Natur vor.
Einmal ist er sechs Tage hintereinander in einer Zelle mit Wänden aus Betonhohlblöcken gefoltert worden, und danach glaubte er, man habe ihn dort seinem Schicksal überlassen, zweieinhalb Tage lebte er in diesem Glauben, mit drei gebrochenen Rippen und einem zugeschwollenen Auge – die Netzhaut in seinem linken Auge war beschädigt worden, sodass jetzt alles, was er sah, von Schlieren durchzogen war wie Bernstein –, bis er aus Gründen, die sich ihm nicht erschlossen, obwohl er seine Gefangenschaft bis ins letzte Detail auf irgendeine innere Logik oder ein Muster hin untersucht hatte, plötzlich freigelassen wurde. Als er ins Tageslicht trat, erschien es ihm unnormal hell, und er merkte, dass er eine so tiefgreifende Veränderung erfahren hatte, dass er nicht mehr mit Gewissheit hätte sagen können, wer er war.
Diese Ungewissheit hielt fast einen Monat lang an. Während dieses Monats wurde sein Gehör unerträglich empfindsam. Wörter fielen ihm nicht mehr ein. Wie
Weitere Kostenlose Bücher