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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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früher mit nervösen Menschen zu tun gehabt, hatte Menschen zerbrechen sehen. Menschen, die sich in weit schwierigeren Lebenslagen, als Isobel Turner sie jemals erleben würde, zäh durchgebissen hatten; Menschen, die plötzlich aufgegeben hatten, ohne Vorwarnung oder ersichtlichen Anlass. Er hatte es im Gefängnis erlebt, während seiner kurzen Zeit bei der sowjetischen Armee, auf den Schiffen, zu deren Besatzung er gehört hatte.
    Valentins Mutter hatte ihn und seine Schwester verlassen, als er zehn war, ohne ein Wort und ohne Vorsorge für sie getroffen zu haben. Sie hatten einen Tag lang ohne Essen ausgeharrt, ehe seine Schwester zu den Nachbarn gegangen war und um etwas zu essen gebeten hatte. Zusammenbrüche dieser Art bereiteten sich schrittweise vor; seine Mutter hatte sich vor Naturkatastrophen, Erdbeben, Überschwemmungen gefürchtet. An manchen Tagen hatte sie das Bett gar nicht verlassen und die Vorhänge nicht aufgemacht; nach dem Tod seines Vaters war ihnen nur noch sehr wenig Geld geblieben. Er weiß noch, dass er an dem Morgen, als sie gegangen war, mit dem klaren Gefühl aufwachte, dass etwas nicht stimmte. Er ging durch den Flur von seinem Zimmer zu ihrem, die Finger an der Wand. Dann stand er lange vor der Schafzimmertür, brachte es nicht fertig, den Türknauf zu drehen, hatte Angst, sie zu stören. Er spürte, dass er beobachtet wurde, und als er sich umwandte, sah er seine Schwester im Nachthemd dastehen und warten. Er drehte den Knauf und stieß die schwere Tür auf: Da stand das Bett seiner Mutter. Sie hatte es gemacht, das Sonnenlicht fiel durchs Fenster darauf, ein helles Rechteck, und das Kissen lag genau in der Mitte vor dem Kopfteil. Draußen sang ein Vogel. In der Küche war nichts umgestoßen oder zu Bruch gegangen, und außer den Kleidern, die sie am Leib trug, hatte seine Mutter nichts mitgenommen. Das Haus dröhnte von ihrer Abwesenheit.
    Er fing an, regelmäßig zum Tee bei Isobel vorbeizuschauen, wenn er wusste, dass sie allein war. Er mochte es, wenn sie ihm etwas zu essen anbot. Ihre Schränke waren voller Arzneien und Tinkturen. Sträuße getrockneter Kräuter hingen von den Fensterrahmen. Sie aß nicht viel, und im Gemüsefach lagen teurer Käse und welkes Gemüse. Sie war ihm gegenüber kühl und bestimmt, aber sie war auch verletzlich. Manchmal lagen drei oder vier Laib selbstgebackenes Brot auf dem Küchentisch, noch warm und mit karierten Geschirrtüchern bedeckt. Sie war gefügig und in sich selbst versunken, und sie faszinierte ihn. Mit der Zeit merkte er, dass sie eine Menge Tabletten nahm, und vielleicht war ihre träge Laszivität nichts anderes als aufgeputschte Niedergeschlagenheit. Sie hatten sich den ganzen Winter und Frühling hindurch getroffen, meistens, wenn ihm danach war. Momentan bereitete sie sich auf weitere Dreharbeiten für denselben Film vor. Seit etwa einer Woche war sie zielgerichteter, beherrscht und distanziert.
    Der Garten vor ihrer Küche leuchtete grün, das Sonnenlicht schien durch das Geäst der großen Bäume. Die Spannerraupen hatten alles Laub abgefressen, die Äste waren kahl. Vom Fenster aus konnte er die Raupen an den Ästen hängen sehen. Die Bäume waren den dritten Sommer in Folge befallen, und es hieß, das würden sie nicht überleben. Wäre es sein Haus, hätte er gespritzt. Er hätte die Raupen auf direktem Weg in die Hölle zurückbefördert, wo sie fraglos herkamen.
    Sie trug ein hauchdünnes limonengrünes Nachthemd, als sie das Schreiben der Versicherung las. Sie zog einen Fuß aus der Pantolette und kratzte sich mit den hellrot lackierten Zehennägeln an der Ferse. Dann schlüpfte sie wieder in den Schuh, drehte das Blatt um und las weiter. Im Sonnenlicht waren die Fältchen um ihre Augen zu sehen; es gefiel ihm, dass sie deutlich älter war als er. Dass sie älter war, hatte er gleich vermutet, aber sie verriet nicht, um wie viel. Er wusste, dass sie niemals gegen den Raupenbefall spritzen würde.
    Ich muss an meine Tomaten denken, hatte sie gesagt, als er ihr riet zu spritzen. Sie stand da und las die Mitteilung ihrer Versicherung, der Toast qualmte, und er fasste seinen Entschluss. Er würde das Haus niederbrennen.
    Letzte Woche waren sie zusammen in den Garten hinausgegangen, nachdem sie sich geliebt hatten, sie hatten sich unter die ausgewachsenen Ahornbäume gestellt und den Raupen zugehört. Der Abend war schwül, Isobel hatte sich ein Tuch um die nackten Schultern gelegt und starrte in die Baumkronen hinauf. Es war

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