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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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Sommer, den langen, heißen August, damit verbringen, gemeinnützige Arbeit zu leisten und mit dem Leben schlechthin sowie mit Beverly und sich selbst zu hadern. Und Beverly würde ihr die ganze Zeit mütterlich zur Seite stehen müssen. Es war ihre Aufgabe, es wurde von ihr erwartet. Sie war ihrer Tochter, der Hitze, ihrer Einsamkeit müde. Sie wollte ans Meer, ins Wasser. Sie wollte diese bestimmte Art von Kälte spüren, sich unterkühlen, an Land gespült und von jemandem gefunden werden, der bereit war, die Zügel in die Hand zu nehmen. Stattdessen saß sie im Atlantic Place, ganz zittrig von zuviel schlechtem Kaffee und einer erdrückenden, bedingungslosen Liebe zu ihrer Tochter mit der lädierten Nase.
    Sie saßen am Nachbartisch von Mr. John Harvey, einem Obdachlosen aus der Innenstadt, der es sich auf einem Stuhl bequem gemacht hatte und sich nun hinunterbeugte und den Reißverschluss seiner Gummistiefel öffnete, sodass seine Knöchel zum Vorschein kamen, bläulich blass und von Adern durchzogen, fast opaleszent.
    Mr. Harvey trug einen ausgesonderten Armee-Parka, der bis zum Kinn geschlossen war. Beverly konnte nur mutmaßen, wie heiß ihm sein musste. Sie schaute auf den Hafen hinaus und hatte plötzlich Lust zu reden.
    Diesmal bist du zu weit gegangen, Fräulein, sagte sie.
    Und einen Augenblick später: Ich nehme mal an, dass du irgendwann imstande sein wirst, zu sagen, dass dir das alles leid tut.
    Ein Kreuzfahrtschiff schob sich langsam ins Fenster. Es war grellweiß, selbst durch die getönten Fensterscheiben, und hatte tausende schwarze Bullaugen. Ein gigantisches Schiff, das einen kühlen Schatten auf die am Hafen spazierengehenden Familien warf.
    Mr. John Harvey schlug sich ein paarmal mit der Faust auf die Brust und warf schießlich mit einem heiseren Huster etwas aus, das er in eine Papierserviette wickelte und einsteckte.
    Colleen wollte plötzlich, dass ihre Mutter sie zu dem Diversionstermin begleitete. Sie hätte alles gegeben, um ihre Mutter dabeizuhaben. Dazu gab es Mütter schließlich: als mobiles Rettungskommando.
    Da ist Durchgreifen angesagt, bei aller Liebe, sagte ihre Mutter.
    Die Polizisten auf der anderen Seite des Raums brachen in Gelächter aus. Einer nahm die Mütze ab und schlug seiner Kollegin damit auf die Schulter. Sie tat so, als kippte sie vom Stuhl. Das waren auch nur Menschen, diese Polizisten.
    Beverly fragte: Hast du bei alldem je an mich gedacht?
    Ich wollte etwas verändern, sagte Colleen. Während sie diesen Satz sagte, sah sie den Planeten Erde aus großer Ferne. Er war so weit weg, dass er aus der Gegenwart herausgelöst zu sein schien, Teil einer fernen Zukunft. Sie hatten alle lange vor diesem Moment gelebt, die Polizisten, Mr. John Harvey, ihre Mutter. Die Welt war immer noch die Welt, aber sie waren nicht mehr in ihr. Sie waren längst tot, und neue, bessere Menschen waren an ihre Stelle getreten.
    Einmal, sagte ihre Mutter, habe ich dich in einem Korb auf dem Küchentisch stehen lassen und bin hochgegangen, um etwas zu holen. Und als ich eine Viertelstunde später wieder runterkam, war die Küche voller Rauch. Ich hatte Kartoffeln aufgesetzt, und der Boden des Topfes ist fast durchgebrannt. Ich hätte dich beinahe erstickt. Warum bin ich heute nur so sentimental?
    Es tut mir leid, dass das passiert ist, platzte Colleen heraus. Sie wollte durch die Vergebung ihrer Mutter belohnt werden, dann würde die Sonne all die Prismen in ihrer leeren Küche entflammen, das Kreuzfahrtschiff würde vorbeiziehen und die Sonne würde mit ihren Armen über den gleitenden Koloss hinausreichen.
    Colleen war bereit, für die Folgen ihres Handelns einzustehen – in ihrer Vorstellung hatte sie einen bierbäuchigen Bauunternehmer in ohnmächtiger Wut mit dem Fuß aufstampfen sehen –, aber dass sie erwischt werden könnte, war nicht Teil ihrer Vorstellung gewesen.
    David hatte immer gesagt: Das Gute setzt sich durch. Er war wie ein Maurer gewesen, der einen Stein auf den anderen legt. Es gab einen richtigen, ehrlichen Weg; die Dinge mussten sich fügen.
    So weniges ist es wirklich wert, getan zu werden, hatte er einmal gesagt. Das war, nachdem die Baufirma in die Binsen gegangen war und er eine Woche im Bett gelegen hatte. Er behauptete, er habe sich einen Virus eingefangen, wahrscheinlich hochansteckend. Er war nur aus dem Schlafzimmer gekommen, um morgens eine zu rauchen und dabei Canada AM anzuschauen, in seinem schief geknöpften Schlafanzug und einem grau-braun gestreiften

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