Im Rausch der Freiheit
Parks erreichten, wurden die Menschenmassen dichter, und über sie hinweg sah man den breiten Belagerungsring um das Arsenal. Genau in diesem Augenblick schlug ein Hagel von Pflastersteinen gegen das Gebäude, und jemand schleuderte ein Fässchen voll mit brennendem Pech durch eines der Fenster hinein. Die Menge brüllte auf.
»Hier geht’s nicht weiter«, sagte Madame Restell entschieden. »Fahren Sie rüber auf die Fifth!«, rief sie dem Kutscher zu.
»Ich muss aussteigen!«, schrie Hetty. »Hier wohne ich!«
»Seien Sie nicht albern, Schätzchen«, sagte Madame Restell. »Da kommen Sie nie im Leben durch.«
Hetty wäre am liebsten hinausgesprungen, aber sie konnte nicht bestreiten, dass Madame Restell recht hatte.
Sie bogen in die Fifth ein. Es war zu erkennen, dass manche Häuser geplündert worden waren, aber die Aufrührer schienen momentan anderweitig beschäftigt.
»Am besten kommen Sie mit zu mir«, sagte Madame Restell. »Ich hab einen kleinen Diener, der schlängelt sich durch jedes Gewühl. Richtige kleine Five-Points-Ratte. Ich schick ihn zu Ihrem Haus, damit er Bescheid gibt, wo Sie sind.«
Das mochte die vernünftigste Lösung sein, doch Hetty gefiel sie nicht. Die Straße war frei, und der Kutscher trieb die Pferde an. Sie rasten am Madison Square vorbei. Die Hitze des Tages und der Staub, den die Pferdehufe aufwirbelten, ließen die braunen Sandsteinfassaden der Häuser verschwimmen. Sie verspürte eine leichte Übelkeit, als würde sie gegen ihren Willen einen unheimlichen, heißen Fluss von Staub hinaufgezerrt. Sie waren schon in der 30th. Zur Rechten sah sie ein unbebautes Grundstück, auf dem sich eine Gärtnerei befand. Eine Backsteinkirche ragte plötzlich wie ein Vorwurf zu ihrer Linken auf.
Und dann fiel ihr Blick auf die gewaltige festungsartige Masse des Reservoirs. Den Ort, an dem Frank um ihre Hand angehalten hatte. Ein Fels inmitten dieser wabernden Hitze und dieses wirbelnden Staubs. Unerschütterlich wie eine Pyramide in der Wüste. Das Fundament ihrer Ehe. Sie ließ es gerade zu, dass man sie daran vorbeitrug. Ich muss verrückt sein, dachte sie.
Sie hatten die 42nd Street passiert.
»Halt!« Sie riss das Fenster auf und schrie dem Kutscher zu: »Sofort anhalten!«
Die Droschke verlangsamte ihr Tempo.
»Was machen Sie da?«, rief Madame Restell aus. »Weiterfahren!«, brüllte sie dem Kutscher zu. Aber zu spät. Hetty hatte schon den Wagenschlag geöffnet und war, noch ehe die Droschke zum Stillstand kam, auf die staubige Straße gestürzt. »Dummes Stück!«, rief Madame Restell zu Hetty hinunter, als diese sich mühsam wieder aufrappelte. »Steigen Sie sofort wieder ein!«
Doch Hetty dachte nicht daran.
»Danke fürs Mitnehmen«, rief sie, machte kehrt und ging die Fifth wieder hinunter. Sie mochte hier und da ein paar Schrammen abbekommen haben, aber sie fühlte sich jetzt besser. Wenigstens unternahm sie etwas.
Während die Droschke weiter die Fifth hinauffuhr, blieb Hetty kurz stehen, um ihre Kleider zu richten. Die Hitze und die Feuchtigkeit waren erdrückend. Sie sah sich um. An der gegenüberliegenden Straßenecke stand ein großes Gebäude. Und als sie es sah, da musste sie lächeln.
Wenn das Reservoir das technische Genie der Stadt repräsentierte, war das Waisenhaus für schwarze Kinder, an dem sie eben vorbeiging, gerade an diesem chaotischen Tag eine willkommene Erinnerung daran, dass die Stadt auch moralische Werte kannte. Denn es waren die Reichen New Yorks, Menschen wie sie, die das Geld für das Waisenhaus gestiftet hatten, und es war keine hohle Geste gewesen. Zweihundertsiebenunddreißig schwarze Kinder, vom Säuglingsalter an aufwärts, erhielten in diesem Gebäude Obdach, Kleidung, Nahrung – und ja, auch eine ordentliche Ausbildung. Zweihundertsiebenunddreißig Kinder erhielten dort die Chance auf ein menschenwürdiges Leben.
Wenn Madame Restell oder Frank oder sonst jemand wissen wollte, wofür Lincoln kämpfte, dachte sie, dann sollten sie zum Waisenhaus an der Fifth kommen und sich die Kinder ansehen.
*
Sie bemerkte den Mob erst im letzten Augenblick. Die Leute kamen aus den Querstraßen und stürmten die Avenue hinunter. Männer und Frauen mit Backsteinen bewaffnet, Knüppeln, Messern, allem, was ihnen unterwegs in die Hände gefallen war. Sie schienen schon zu Hunderten zu sein, und immer mehr strömten aus den Straßen hervor.
Sie blieben nicht stehen, um Fenster einzuwerfen. Sie würdigten auch Hetty keines Blickes. Sie hatten ein
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