Im Rausch der Freiheit
die Kinder. Sie waren jetzt fast alle draußen. Hetty schaute hinter sich. Die Heimleiterin forderte die Kinder gerade auf, sich in Marsch zu setzen. Schnell, aber nicht zu schnell. Auch die Menge sah das. Eine Frauenstimme rief: »Die Nigger machen sich davon!« Jeden Augenblick, das spürte Hetty ganz deutlich, konnten Einzelne aus dem großen Haufen ausbrechen und an ihr vorbeistürmen.
»Halt!«, schrie sie. »Wollt ihr etwa kleinen Kindern etwas antun?« Sie hob die Arme und breitete sie aus, als könnte sie die Menge dadurch aufhalten. »Das sind doch kleine Kinder!«
Jetzt endlich sah die Menge sie und richtete ihren kollektiven Blick auf sie. Und sie sah Hetty als das, was sie war: eine reiche republikanische Protestantin, ihre Feindin. Der irische Hüne neben ihr schwieg, und Hetty kam plötzlich der Gedanke, dass er sie vielleicht nur deswegen dorthin getragen hatte, damit die Menge sie tötete.
Noch schien der Mob zu zögern. Dann ertönte wieder die Stimme der Frau: »Das sind Niggerkinder, Lady. Da macht’s nix, wenn man die totschlägt.« Beifälliges Gebrüll. Die Menge schob sich langsam weiter vor.
»Das dürft ihr nicht! Das dürft ihr nicht!«, schrie Hetty verzweifelt.
Und in diesem Moment stieß der Riese neben ihr einen mächtigen Schrei aus.
»Was fällt euch ein? Habt ihr keinen Funken Menschlichkeit im Leib? Hat keiner von euch einen Funken Menschlichkeit?«
Hetty wusste nichts von der Masse. Dass der Mob trotz seines Hasses gezögert hatte, über sie herzufallen, hatte einen einzigen Grund: Sie war eine Dame. Aber der Riese neben ihr war ein Mann. Einer von ihnen. Und jetzt ein Verräter, der sich auf die Seite des Feindes schlug und ihnen Moralpredigten hielt. Mit einem wütenden Aufschrei stürmten zwei Frauen auf ihn los. Die Männer setzten sofort nach. Wenn sie die Kinder nicht haben konnten, würden sie sich eben an ihm schadlos halten. Er war Freiwild.
Seine Körpergröße nützte ihm nichts. Ein Riese kann gegen eine Volksmenge nichts ausrichten. Binnen Sekunden lag er auf dem Boden.
Hetty hatte noch nie mit angesehen, wie eine wütende Menge einen Einzelnen anfällt. Sie kannte ihre Brutalität und Gewalt nicht. Sie fingen mit seinem Gesicht an, traktierten es mit Fäusten und schweren Stiefeln. Sie sah Blut, hörte Knochen splittern, dann konnte sie gar nichts mehr sehen, weil man sie an den Straßenrand schleuderte und der Ire unter einer Horde von Männern verschwand, die mit all ihrer Kraft und ihrem Gewicht wieder und wieder und wieder auf ihn einstampften.
Als sie von ihm abließen, war von dem irischen Riesen fast nichts mehr übrig.
Der Mob drang jetzt in das Waisenhaus ein. Es gab für alle genug. Lebensmittel, Decken, Betten: Das Haus wurde vollkommen geplündert. Aber die Kinder konnten, Gott sei Dank, entkommen. Hetty Master und Hüne hatten sie gerettet.
Also stand Hetty langsam wieder auf und warf einen Blick auf den blutigen Brei, der vor Minuten noch ein kräftiger Körper mit einem Gesicht gewesen war, und schleppte sich zur Mitte der Fahrbahn. Und dort spürte sie plötzlich, fast ohne zu wissen, was mit ihr geschah, wie zwei kräftige Arme sich um sie schlangen, und sie sah das Gesicht ihres Mannes. Da klammerte sie sich an ihn, und er half ihr, bis zum Reservoir zu humpeln und dann die 40th in östlicher Richtung entlang, bis er sie, auf der nächsten Avenue, in die große Kutsche hob, mit der er gekommen war.
»Gott sei Dank, dass du gekommen bist«, murmelte sie, »ich habe den ganzen Tag nach dir gesucht.«
»Und ich nach dir.«
»Lass mich nie wieder allein, Frank. Bitte lass mich nicht allein.«
»Nie wieder«, sagte er mit Tränen in den Augen. »Niemals, so lange, wie ich lebe.«
*
Als Sean O’Donnell sich am frühen Abend in seinem Saloon umsah, wusste er, dass er richtig daran tat, von Hudson zu verlangen, dass er weiter im Keller blieb. Auf der ganzen West Side hatten Pöbelhaufen Schwarze attackiert, sie verprügelt, ihre Häuser in Brand gesteckt. Sogar von Lynchmorden war die Rede. Im St. Nicholas Hotel stießen Militärs zum Bürgermeister, Truppen wurden angefordert. Man hatte Präsident Lincoln eine Depesche geschickt. Jetzt, da sich die Konföderierten nach der Niederlage von Gettysburg auf dem Rückzug befanden, musste er ein paar Regimenter für New York erübrigen, ehe die ganze Stadt in Flammen aufging. Eine Gruppe von Gentlemen hatte sich mit Musketen bewaffnet und war zur Verteidigung des Gramercy Park abgerückt. Sean
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