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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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und Laken hatten, die sie selbst in ihren überfüllten Mietskasernen vielfach nicht besaßen.
    Sie bewarfen das Gebäude mit Steinen, Männer stürmten vor, um die Tür einzutreten.
    Hetty versuchte sich durch die Menschenmenge zu drängen.
    »Hört auf!«, schrie sie. »Das sind Kinder! Wie könnt ihr nur?«
    Niemand beachtete sie. Sie kämpfte sich mühsam voran, aber das Gedränge war einfach zu dicht. Sie fand sich neben einem rothaarigen irischen Hünen eingeklemmt, der wie alle anderen vor Wut brüllte. Sie ließ sich nicht einschüchtern, hämmerte mit den Fäusten gegen seinen Rücken. »Lassen Sie mich durch!«
    Und endlich drehte er sich um und schaute auf sie herab.
    »Sagen Sie denen, dass sie aufhören sollen!«, schrie sie. »Wollen Sie zulassen, dass sie unschuldige Kinder töten? Sind Sie kein Christ?« Seine blauen Augen starrten weiter auf sie herab wie die eines Riesen, der sein Abendessen betrachtet. Na, sollte er doch tun, was er wollte! »Werden Sie Ihrem Priester erzählen, dass Sie Kinder ermordet haben?«, fragte sie herausfordernd. »Haben Sie keinen Funken Menschlichkeit in sich? Lassen Sie mich durch, und ich werde denen sagen, dass sie aufhören sollen!«
    Da streckte der große Ire die Hände aus und hob sie hoch und hielt sie in seinen muskulösen Armen, und sie fragte sich, ob er sie einfach an Ort und Stelle töten würde.
    Doch zu ihrer Verblüffung fing er an, sich durch das Gedränge zu schieben. Und schon Augenblicke später waren sie draußen.
    Vor ihr erhob sich das Waisenhaus. Hinter ihr, als der Riese sie absetzte und sie sich umdrehte, drängte sich die Menge.
    Es war ein grauenerregender Anblick. Die geballte Wut schlug Hetty wie ein brüllend heißer Atem entgegen. Der Mob starrte, schrie, schleuderte Wurfgeschosse und spuckte Feuer auf das Waisenhaus hinter ihr. Jetzt stand sie also vor diesem schrecklichen Ungeheuer, aber wie konnte sie zu ihm sprechen? Wie konnte sie sich je Gehör verschaffen?
    Erst blickten einige, dann immer mehr Augen in ihre Richtung. Finger zeigten an ihr vorbei. Irgendetwas hinter ihr fesselte die Aufmerksamkeit eines Teils der Menge. Sie drehte sich um.
    Ein Stückchen weiter die Straße entlang hatte sich eine Seitentür des Waisenheims geöffnet. Eine Frau steckte den Kopf hinaus. Hetty erkannte sie: die Leiterin der Anstalt. Die Frau sah voller Entsetzen auf die Straße. Aber offenbar war sie zu dem Schluss gelangt, dass es keine Alternative gab, denn jetzt erschien neben ihr ein kleines schwarzes Kind, dann noch eins und noch eins. Die Waisenkinder kamen eins nach dem anderen heraus. Und nicht nur das: Zu ihrer Verblüffung sah Hetty, dass sie sich diszipliniert in einer Reihe aufstellten.
    Lieber Gott, sie hätten ebenso gut auf dem Weg in die Kirche sein können!
    Einen Augenblick später kam auch der Hausmeister heraus. Er ordnete die Kinder zu einer kleinen Kolonne. Und es war niemand da, der ihnen hätte helfen können außer der Heimleiterin und dem Hausmeister. Immer mehr Kinder strömten, von der Leiterin zur Eile angetrieben, auf die Straße, während der Hausmeister darauf achtete, dass sie sich diszipliniert in Reih und Glied aufstellten.
    Sie führten alle zweihundertsiebenunddreißig Kinder nach draußen in diesen Glutofen, weil ihnen nichts anderes übrigblieb. Und sie bewahrten dabei äußerlich die Ruhe. Um der Kinder willen nahmen sie sich zusammen. Und die Kinder verließen weiter gehorsam das Gebäude, und der Hausmeister stellte sie so auf, dass sie die Menge nicht sahen.
    Aber der Menge gefiel das ganz und gar nicht.
    Denn mit einem Mal schien der hintere Teil der Randalierer, der die Straße nicht übersehen konnte, wie durch einen schrecklichen Zauber durch die Blickrichtung der Vorderen zu erkennen, dass die Kinder draußen waren. Und die gesamte Menschenmenge begann bei dem Gedanken, dass ihre Beute zu entfliehen wagte, vor Wut zu beben. Die vordersten Reihen der Masse fingen an, sich langsam, Schritt für Schritt, vorwärtszubewegen wie eine Schlange, die das Gelände vor sich züngelnd auskundschaftet. Wieder schrie jemand: »Schlagt die Niggerbälger tot!«, andere nahmen den Kampfschrei auf.
    Die Kinder hörten das und zuckten ängstlich zusammen.
    Da wurde Hetty bewusst, dass sie selbst und der irische Hüne als Einzige noch zwischen der Menge und den Kindern standen.
    Seltsamerweise schien diese sie gar nicht wahrzunehmen. Sie stand zwar in ihrem Blickfeld, aber alle Blicke richteten sich ausschließlich auf

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