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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Theodor gerade miteinander, und Gretchen sagte: »Geh du schon mal voraus Mary, ich komme gleich nach.«
    Sie war allerdings erst ein kurzes Stück den Strand entlanggegangen, als sie in ihre Umhängetasche griff und erkannte, dass sie ihre Bleistifte oben im Zimmer vergessen hatte, also wieder zurücklaufen musste. Im Gasthof angelangt, konnte sie Gretchen und Theodor nicht sehen, also sagte sie sich, dass Gretchen vielleicht auf ihr Zimmer gegangen war. Doch das Zimmer war leer. Mary nahm ihre Bleistifte und ging wieder hinaus.
    Sie schlug gerade den Pfad zum Strand ein, als sie die beiden sah. Sie standen ein Stück abseits, am Ende des weißen Staketenzauns, der den Gasthof umgab, im Schatten eines kleinen Baumes. Sie ihrerseits bemerkten sie nicht, weil sie zu sehr in ihr Gespräch vertieft waren, und auch wenn Mary nicht verstehen konnte, was sie sagten, hörte sie sofort, dass sie sich stritten. Gretchens normalerweise so gelassenes Gesicht war vor Wut verzerrt. Mary hatte sie noch nie so gesehen. Theodor sah gereizt und ungeduldig aus.
    Sie beschloss, sich schnell zu entfernen und so zu tun, als habe sie nichts gesehen.
    Der Anblick ihrer streitenden Freunde hatte einen unerfreulichen Riss in den idyllischen Tag gebracht, wie eine dunkle Wolke, die plötzlich an einem blauen Himmel erscheint. Mary schritt also rasch den Strand entlang, um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und die zwei Kellers zu bringen. Sie wollte sich den Nachmittag durch nichts verderben lassen. Und nachdem sie eine gute Meile zurückgelegt und dabei nichts anderes gesehen hatte als die ununterbrochene Linie des Horizonts und den weißen Sand, fühlte sie sich wiederhergestellt. Sie erkannte, dass sie sich der Stelle näherte, an der sie schon am vorigen Tag gezeichnet hatte, und so stieg sie über eine niedrige Düne und begann sich umzuschauen, ob vielleicht die Hirschkuh wieder da wäre.
    Das war nicht der Fall, statt dessen bemerkte sie in einiger Entfernung einen kleinen Unterstand, der offenbar lange nicht mehr benutzt wurde. Das Dach fehlte, und die niedrigen Pfosten, die es getragen hatten, ragten windschief in den Himmel. Mit den Bäumen, in der Nähe, bot er ein seltsames, fast unheimliches Bild, das nicht schwer wiederzugeben war, und so setzte sie sich hin und fing an zu zeichnen. Nach einer Weile, als sie mit dem vorläufigen Ergebnis nicht unzufrieden war, legte sie den Block hin und stand auf, um sich die Beine zu vertreten. Sie stieg auf den Dünenkamm und schaute den Strand entlang, ob Gretchen endlich auftauchte, doch weit und breit war niemand zu sehen.
    Sie kehrte zu ihrem Zeichenblock zurück und arbeitete weiter. Dann nahm sie ihren Strohhut ab und legte sich kurz auf den Rücken, um die Sonne zu genießen. Ihr Gesicht und ihre Arme waren unbedeckt, und die warme Berührung der Sonne fühlte sich köstlich an. Es war völlig still. Ganz leise war das sanfte Geräusch zu hören, mit dem sich die Wellchen auf dem Sand verliefen. Es war ein so friedvolles Gefühl, als sei sie in einer ganz anderen Welt, an einem zeitlosen Ort, der fast nichts mit dem Großstadtleben zu tun hatte, das sie hinter sich gelassen hatte. Vielleicht, dachte sie verträumt, würde sie sich, wenn sie nur lange genug dort blieb, in einen anderen Menschen verwandeln. So blieb sie einige Minuten lang in der prallen Sonne liegen. So, vermutete sie, mussten sich Eidechsen fühlen, wenn sie sich, platt auf einem Stein, mit den Strahlen der Sonne vollsogen.
    Als es im Strandhafer zu ihrer Rechten leise raschelte, hob sie den Kopf ein bisschen und wollte schon den Mund öffnen und »Hallo, Gretchen« sagen. Aber es war nicht ihre Freundin.
    »Ah«, sagte Theodor, »ich hatte mir schon gedacht, dass ich dich hier finden würde.«
    »Wo ist Gretchen?«, fragte Mary.
    »Im Gasthof. Sie wollte sich ein wenig hinlegen.«
    »Oh.«
    »Was dagegen, wenn ich mich setze?«
    Sie gab keine Antwort, aber er setzte sich trotzdem neben sie. Er hob ihren Block vom Boden auf und sah sich ihre Zeichnung an.
    »Ist noch nicht fertig«, sagte sie.
    »Sieht vielversprechend aus«, bemerkte er mit einem kurzen Blick in Richtung des verfallenen kleinen Unterstands. Er legte den Zeichenblock neben sich hin, so dass er außerhalb ihrer Reichweite war, und streckte sich dann auf dem Rücken aus. Es kam ihr etwas komisch vor, so aufrecht neben ihm zu sitzen, und sie fragte sich, ob sie ihren Hut wieder aufsetzen sollte. »Leg dich doch auch hin«, sagte er. »Die

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