Im Rausch der Freiheit
Herren der Tammany Hall auch schon lange wussten, wie sich aus New York City Geld herausschlagen ließ, musste man zugeben, dass Boss Tweed die sanfte Kunst des »gepolsterten Vertrags« zu ungeahnten Höhen der Vervollkommnung geführt hatte. Dabei war er ganz einfach vorgegangen. Zusammen mit Sweeny, dem Park Commissioner, dem Rechnungsprüfer Connolly und Bürgermeister Oakey Hall bildete er einen »Ring« zur Vergabe öffentlicher Aufträge. Doch während man auf einen Bauauftrag mit einem Volumen von, sagen wir, zehntausend Dollar früher vielleicht ein-, zweitausend extra aufgeschlagen hatte, sah der Ring, da er ja alles kontrollierte, keinerlei Veranlassung, sich weiterhin mit derlei Kleckerbeträgen zufriedenzugeben. Seit mittlerweile einem Jahrzehnt konnte der reale Vertragswert problemlos verfünf-, verzehn-, ja sogar verhundertfacht werden. Der beauftragte Unternehmer bekam den vereinbarten Betrag zuzüglich eines fetten Bonus, und die riesige Restsumme teilte der Ring unter sich auf.
Boss Tweeds ehrgeizigstes Projekt war das Gerichtsgebäude, das hinter dem Rathaus entstehen sollte. Die Bauarbeiten zogen sich inzwischen seit zehn Jahren hin, und ein Ende war nicht abzusehen. Dabei stand es eigentlich kurz vor seiner Fertigstellung, und niemand bezweifelte, dass es eines der schönsten Gebäude der Stadt werden würde – ein regelrechter Palast im besten klassizistischen Stil. Aber Tweeds Syndikat sah keinen Grund zur Eile, denn dieses prachtvolle Meisterwerk der Architektur war gleichzeitig auch eine Quelle von flüssigem Gold. Jeder profitierte davon – zumindest jeder aus dem ausgedehnten Freundeskreis des Rings. Kleine Handwerker mit Subunternehmerverträgen hatten sich bereits eine goldene Nase verdient. Keiner wusste, wie viele Millionen in dieses einzige Bauprojekt geflossen waren, doch so viel war sicher: Das Gerichtsgebäude hatte schon jetzt mehr gekostet als das erst kürzlich eingekaufte Territorium Alaska.
Dennoch hatte die Presse den Ring erst zwei Jahre zuvor zum ersten Mal ernsthaft angegriffen. Dafür kam die Attacke dann gleich von zwei Seiten: von der New York Times mit Worten und von Harper’s Weekly in Form von Thomas Nasts brillanten Karikaturen.
Die größere Gefahr für Boss Tweed ging dabei von Thomas Nasts Karikaturen aus. Seine Wähler konnten vielleicht nicht lesen, sagte er sich, aber die Karikaturen verstanden sie. Sein Versuch, Nast für eine halbe Million Dollar zu kaufen, scheiterte. Thomas Nast, der in einer Militärbaracke in Landau in der Pfalz geboren wurde, und als sechsjähriger Junge mit seiner Mutter 1846 nach New York kam, wo er später Kunst studierte, erwies sich als nicht käuflich. Und jetzt war Boss Tweed endlich verhaftet worden.
*
Theodor war mit dem Porträt von Tweed, das er ein paar Jahre zuvor angefertigt hatte, nicht sonderlich zufrieden gewesen. Der Mann mit der hohen, gewölbten Stirn und dem Bart hätte ein beliebiger korpulenter Politiker sein können, wenngleich das schräg in das Atelier einfallende Licht etwas von seiner Aggressivität und Raffgier sichtbar machte. Die Sitzung mit Nast hatte ihm weit mehr Freude bereitet. Sie waren etwa gleichaltrig und beide deutschstämmig. Er mochte den scharfsichtigen Karikaturisten mit dem überraschend glatten, runden Gesicht, in dem ein buschiger Schnauzer und ein kecker Spitzbart prangten. Zudem fand Theodor, dass er den lebhaften, spottlustigen Charakter des jungen Mannes recht gut eingefangen habe.
Was das dritte Photo anbelangte, so vermittelte es zwar einen guten Eindruck von den Fortschritten des Gerichtsgebäudes, doch es war ansonsten völlig uninteressant.
»Das sind nicht mehr als Reklamephotos«, beschwerte er sich Master gegenüber.
»Reklame ist gut fürs Geschäft«, erwiderte Frank.
»Das weiß ich. Aber sehen Sie nicht, was passieren wird? Die Leute werden sich die Photographien von Tweed anschauen, weil er heute in der Zeitung steht, und meinen eigentlich wichtigen Arbeiten keine Beachtung schenken.«
»Machen Sie sich erst mal einen Namen«, sagte sein Gönner. »Alles Weitere kommt dann von selbst.«
»Ich mach es nicht.«
»Theodor, ich bitte Sie um diesen Gefallen. Alle sonstigen Arbeiten, die Sie ausstellen wollten, hängen da. Und die Besucher werden sie auch wahrnehmen, das garantiere ich Ihnen.« Er legte eine kurze Pause ein. »Es wäre mir sehr wichtig.«
Das war in freundlichem Ton gesagt, doch Theodor konnte die mitschwingende Drohung nicht überhören. Wenn er
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