Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
fahr ich rüber. Wenn Sie wollen, nehm ich Sie mit.«
    *
    Es war seltsam, im Dunkeln über den East River gerudert zu werden. Die meisten Fenster der Stadt waren verrammelt und damit dunkel. Auch viele Gaslaternen entlang der Uferstraße brannten nicht – verströmten dabei aber zweifellos gefährliches Gas. Über der ganzen Stadt schwebte das trübe Leuchten der Brände, und ihr Geruch trieb über das Wasser.
    Im Uferbezirk der South Street war es jetzt ruhig, und es gelang ihnen, das Boot festzumachen und an Land zu klettern. Theodor drückte dem alten Mann mehrere Dollar für seine Freundlichkeit in die Hand. Trotz Gretchens Protesten setzten Theodor und Mary durch, dass er zu ihrem Haus in der Nähe der Bowery gehen würde, während Mary sie zu Seans Lokal mitnehmen sollte, das nicht weit entfernt war. »Wenn’s einen Ort gibt, an dem wir hier unten sicher sind, dann ist das Seans Saloon.«
    Als sie ankamen, wollte Sean gerade abschließen und ließ sie, obgleich nicht sonderlich erfreut, sie zu sehen, schnell hinein.
    »Ich dachte, ihr wärt auf Coney Island und in Sicherheit«, sagte er. Aber er hatte Verständnis. »Eine Mutter zieht’s zu ihren Kindern«, sagte er zu Gretchen. »Da kann man nichts machen.«
    Eine halbe Stunde später erschien Theodor. Die Kinder waren wohlauf und bei ihren Großeltern. »Ich kann dich hinbringen«, sagte er zu seiner Schwester.
    Bevor sie aufbrachen, wandte er sich an Mary.
    »Wir sprechen uns ein anderes Mal wieder, Mary – wenn das alles vorbei ist«, sagte er leise.
    »Vielleicht«, sagte sie.
    Er würde ihre Begegnung bestimmt nicht vergessen. Sollte sie ihn in seinem Atelier besuchen, würde er da weitermachen, wo seine Schwester sie unterbrochen hatte. Doch Coney Island war im Urlaub gewesen, unbeschwert, sorglos, und jetzt lebten sie wieder in der Stadt. In ihrer gewohnten Welt.
    Die vordringlichste Frage war: Wohin sollte Mary jetzt gehen?
    »Am besten du bleibst hier«, sagte Sean zu ihr. Als sie erklärte, sie wolle zum Gramercy Park, warnte er: »Ich weiß nicht, wie es da oben momentan aussieht, aber du bist eindeutig sicherer hier bei deiner Familie.«
    Obwohl sie es nicht aussprach, waren ihre eigentliche Familie mittlerweile die Masters, und so musste Sean sie dorthin begleiten, wenn auch recht übellaunig. Auf dem letzten Stück Weg zum Gramercy Park war besondere Vorsicht geboten, und als sie das untere Ende des Irving Place erreichten, lagen überall Glasscherben und Trümmer herum. Sean hatte gehört, dass die 21st Street, auf der Nordseite des Parks, von Barrikaden abgeriegelt war, und sie wollten den abgeschiedenen Platz von seiner Westseite her betreten, wurden jedoch von einer Patrouille – keinen Randalierern, sondern schwer bewaffneten Anwohnern des Gramercy Park – aufgehalten. Diese Männer kannten Sean O’Donnell nicht, einer von ihnen allerdings Mary. Und nachdem er darauf bestanden hatte, dass sie sich an der Straßensperre von ihrem Bruder trennte, begleitete er sie persönlich zum Haus der Masters und klingelte sie aus dem Bett. Sean wartete, bis er sicher war, dass sie sich wohlbehalten im Haus befand.
    Mrs Master kam sofort aus ihrem Zimmer und bereitete ihr in der Küche eine heiße Schokolade zu.
    »Jetzt müssen Sie schnurstracks ins Bett, Mary«, erklärte sie, »und von Ihren Abenteuern können Sie mir morgen ausführlich erzählen.«
    *
    Am nächsten Morgen war Mary nicht zum Erzählen aufgelegt. Ob es nun an der Hitze lag, an der Erschütterung über das, was sie gesehen hatte, oder an etwas anderem -jedenfalls fing sie in dieser Nacht an, sich fiebrig zu fühlen. Am Morgen glühte und fröstelte sie bereits. Mrs Master übernahm selbst ihre Pflege, gab ihr Kräutertees zu trinken und legte ihr kalte Kompressen auf die Stirn. »Reden Sie jetzt nicht, Mary«, sagte Hetty Master, als sie versuchte, ihr zu danken. »Wir sind heilfroh, Sie unversehrt wiederzuhaben.«
    So bekam Mary nichts von dem Morden und Brandschatzen mit, das sich an diesem Tag in der Stadt auf fürchterliche Weise fortsetzte. Sie wusste nicht, dass es jetzt auch im Hafenviertel von Brooklyn, genau da, wo sie gewesen war, zu schweren Ausschreitungen gekommen war oder dass fast entlang des ganzen East River Lynchmorde stattgefunden hatten. Erst als ihr Fieber nachließ und sie am Donnerstagmorgen aufwachte und wieder Hunger verspürte, erfuhr sie, dass endlich Truppen eingetroffen waren, die die Randalierer mit Salven auseinandertrieben, und dass der Gramercy

Weitere Kostenlose Bücher