Im Rausch der Freiheit
drängen; man konnte nur abwarten und das Beste hoffen. Es war nicht das erste Mal, dass er mit der Presse zu tun hatte, und er war kein Narr. Also nickte er dem Mann professionell zu und sagte gelassen: »Ich darf Sie herumführen, Mr Slim.«
Die Ausstellung füllte mehrere Räume und war nach Themen gegliedert. Er beschloss, mit den Porträts zu beginnen. »Hier ist Präsident Grant«, sagte er. »Und hier General Sherman. Und Fernando Wood.« Slim notierte sie sich gewissenhaft. Dann kamen einige Großkaufleute der Stadt, die meist vor einer Hintergrundarchitektur posierten, eine Operndiva und natürlich Lily de Chantal. Theodor blieb vor ihrem Bild stehen.
Er konnte sich ziemlich gut denken, warum Frank Master vorgeschlagen hatte, das Bild Lily de Chantals in die Ausstellung aufzunehmen, war allerdings nicht so dumm gewesen, nach dem Grund zu fragen. Sein Verdacht wurde erhärtet, als er erst zehn Minuten zuvor Hetty Masters trockene Bemerkung hörte: »In natura sieht sie erheblich älter aus.« Es war ein sehr gelungenes Bild mit einer Theaterkulisse als Hintergrund.
»Das habe ich letztes Jahr nach ihrer Soiree aufgenommen. Waren Sie auch dort?«
»Kann ich nicht behaupten.«
»Es war ein denkwürdiger Abend – ein richtiges gesellschaftliches Ereignis. Vielleicht einer Erwähnung wert.«
Slim sah sich die übrigen Porträts an und notierte sich ein paar weitere Namen. Sie waren sorgfältig nach ihrer Werbewirksamkeit ausgesucht worden. Und dann standen sie vor Boss Tweed und Thomas Nast und dem Gerichtsgebäude.
»Zeitlich gut abgestimmt«, sagte Mr Slim und machte sich eine rasche Notiz.
»Den Eindruck habe ich auch«, erwiderte Theodor. »Viele sind vor diesen Bildern stehen geblieben.«
»Das wäre ein guter Aufhänger für einen Artikel«, sagte Slim.
»Solange es nicht das Einzige ist, was Sie darin erwähnen.«
»Sonst noch Porträts, die Sie mir zeigen möchten?«, fragte der Journalist leise. »Irgendwelche interessanten Persönlichkeiten?«
Theodor warf ihm einen kurzen Blick zu. Wussten diese traurigen Augen mehr, als sie verrieten? Spielte Horace Slim vielleicht auf Madame Restell an?
»Alle meine Modelle sind interessant«, sagte Theodor vorsichtig. Aber dann wurde ihm klar, dass er dem Mann besser Material für seinen Artikel liefern sollte. »Ich werde Ihnen verraten, wessen Bild hier nicht hängt«, schlug er vor. »Abraham Lincoln – bei der Einweihung des Soldatenfriedhofs von Gettysburg.«
*
Als er am Ende des Sommers der Einberufungskrawalle beschlossen hatte, New York für eine Weile zu verlassen und das Kriegsgeschehen zu dokumentieren, erkannte er schnell, dass dies nicht ohne Mathew B. Brady klappen konnte, der eine Konzession von der Regierung besaß. Selbst Fotograf, beschäftigte er über ein Dutzend Mitarbeiter, die er, mit besonderen, zu fahrbaren Dunkelkammern umgerüsteten Wagen ausgestattet, zu einzelnen Schlachtfeldern und sonstigen wichtigen Schauplätzen entsandte. Und so war Theodor im November 1863, zusammen mit etlichen weiteren Photographen, unten in Pennsylvania gelandet, in Gettysburg, wo ein Soldatenfriedhof eingerichtet worden war, der die gefallenen Helden der großen Schlacht aufnehmen sollte, die erst Monate zuvor ganz in der Nähe stattgefunden hatte.
Bereits da bestanden kaum noch Zweifel an der Bedeutung der Schlacht von Gettysburg. Bis Anfang Juli 1863 mochte sich zwar auf beiden Seiten eine zunehmende Kriegsmüdigkeit bemerkbar gemacht haben, aber die Konföderierten befanden sich nach wie vor in der Offensive und General Grant war es bis dahin nicht gelungen, die mächtige Konföderiertenfestung bei Vicksburg, unten am Mississippi, einzunehmen.
General Lee und Stonewall Jackson hatten sich am Potomac einer doppelt so großen Streitmacht der Union zur Schlacht gestellt, und wenngleich Jackson fiel, konnten Lee und seine Konföderiertenarmee Maryland überrennen, nach Pennsylvania vordringen und Baltimore und die Bundeshauptstadt bedrohen.
Dann aber, am 4. Juli, errang die Union einen doppelten Sieg. Grant hatte endlich Vicksburg eingenommen, und Lees Armee war bei Gettysburg nach heldenmütigem Widerstand vernichtend geschlagen und nach Süden zurückgetrieben worden.
Damit ging die Initiative im Wesentlichen auf den Norden über. Der Süden wurde immer schwereren Angriffen ausgesetzt.
Nicht dass damit der Krieg gewonnen gewesen wäre. Keineswegs. Die New Yorker Krawalle waren lediglich der extremste Ausdruck eines in der Union
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