Im Rausch der Freiheit
war niemandes Schuld, sie konnten nur irgendwie nie die Zeit dazu erübrigen. Und was war mit Juan? Sie hatten ihn seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.
Dass Juan seit einiger Zeit Probleme hatte, machte die Sache nur noch schlimmer. Bürgermeister Koch hatte südlich der 96th Street gute Arbeit geleistet, aber in Stadtteilen wie Harlem, El Barrio und der South Bronx war weit weniger passiert. Manche meinten, Koch interessiere sich eben nicht sonderlich dafür. Andere wiesen darauf hin, dass nicht einmal er alles auf einmal machen konnte. So oder so hatte Juan nur sehr wenig erreicht. »Im Barrio werden die Verhältnisse nicht besser, sondern nur immer schlechter«, hatte er zu Gorham und Maggie gesagt. Er war so frustriert, dass er mit dem Gedanken spielte, sich bei einem der großen Versorger um eine Stelle zu bewerben: Dort würde er wenigstens seine Kenntnisse in Betriebswirtschaft nutzen können.
Sobald das Baby geboren wäre, versprach sich Gorham, würde er es zum Anlass nehmen, Juan und Janet zum Abendessen einzuladen.
Aber abgesehen von diesen kleinen Missständen – denen mit Sicherheit abgeholfen werden konnte – hätte Gorham ehrlicherweise zugeben müssen, dass er in jeder Hinsicht viel Glück gehabt hatte. Und das hätte er auch, wäre nur ein Problem nicht gewesen: Glück allein war nicht genug.
Das war nicht weiter verwunderlich. Wenn man es recht überlegte, sagte sich Gorham, war New York von jeher ein Ort für Leute gewesen, die mehr wollten. Ob armer Einwanderer oder reicher Kaufmann – nach New York waren die Menschen schon immer gekommen, um mehr zu haben. In schlechten Zeiten kamen sie, um zu überleben, in guten Zeiten, um voranzukommen, und Zeiten eines Wirtschaftsbooms, um reich zu werden. Sehr reich. Und zwar schnell.
Und im Verlauf der Achtziger hatte New York geboomt.
Der Aktienmarkt hatte geboomt. Der Aktienmarkt und die gesamte Dienstleistungsindustrie, die damit zusammenhing, einschließlich der Anwaltskanzleien. 1984 hatte die Börse den Tag erlebt, an dem erstmals eine Million Anteile den Besitzer gewechselt hatten. Händler, Broker, jeder, der mit Aktien oder sonstigen Wertpapieren handelte, hatte die Chance, ein Vermögen zu verdienen. Tom Wolfe hatte dieser Zeit mit seinem Roman Fegefeuer der Eitelkeiten ein satirisches Denkmal gesetzt. Gerade als Maggie schwanger wurde, stieg der Roman die Bestsellerlisten empor.
Die von Wolfe meisterhaft porträtierte Gier war allgegenwärtig. Gier war aufregend – und gut. Gierige Männer, die Erfolg hatten, waren Helden.
Doch Gorham musste sich die Frage stellen: War er gierig genug gewesen?
Wenn er in seinem Büro saß, holte er manchmal den Morgan-Dollar hervor, den seine Großmutter ihm geschenkt hatte, und starrte ihn traurig an. Hätten die Masters früherer Zeiten, die Handelsherren und Eigner von Kaperschiffen, die Kaufleute, die mit Waren und Immobilien spekulierten, hätten sie brav in einem Büro gesessen und für ein Gehalt gearbeitet – na gut, für ein Gehalt mit jährlichem Bonus und Aktienoptionen, aber trotzdem: Wären sie so vorsichtig gewesen, während andere in kürzester Zeit ganze Vermögen verdienten? Vermutlich nicht. New York boomte, und er saß müßig herum, ein Gefangener seiner eigenen Vorsicht und Respektabilität.
War jeder Angehörige seiner Schicht, des alten Geldadels, zur Mittelmäßigkeit verdammt? Nein, manche – darunter Tom Wolfe selbst – waren diesbezüglich aus der Rolle gefallen.
Gorham war nicht direkt aus der Rolle gefallen, aber er hatte doch angefangen, in aller Stille ein bisschen in eigener Sache an der Börse zu spielen, und er hatte seine Sache gut gemacht. Natürlich hatte er dazu Kredite aufgenommen – das war die einzige Möglichkeit, schnell zu Geld zu kommen, und das Risiko war bei steigendem Index nicht besonders groß. Tatsächlich hatte er bei Beginn von Maggies Schwangerschaft bereits ein ansehnliches Aktienpaket beisammen.
Maggie hatte er davon nichts gesagt. Er wollte es ihr erst erzählen, wenn er genug beisammen haben würde, um sie ernsthaft zu beeindrucken – und das würde bei einer Anwältin, deren Mandanten wirkliche Vermögen besaßen, schon einiges erfordern. Doch er arbeitete daran. Seine Aktivitäten verborgen zu halten war ein Kinderspiel, da sie getrennte Steuererklärungen einreichten.
Das war ihre Idee gewesen, gleich zu Beginn ihrer Ehe. Er wusste nicht, wie viel sie verdiente, und sie wusste nicht von ihm. Sie führten Buch über ihre
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