Im Reich der Löwin
ältesten Bruders) und Otto von Braunschweig (Sohn seiner Schwester und von Heinrich dem Löwen) können ein Anrecht auf den englischen Königstitel geltend machen. Zudem brodelt es auch bald schon in England, kaum ist Richard Löwenherz außer Landes, da sowohl die Bürger der Hauptstadt als auch der Klerus mit der Machtfülle des Justiziars, Hubert Walter, unzufrieden sind. Zwar unternimmt die Mutter des englischen Königs, Aliénor von Aquitanien, alles in ihrer Macht Stehende, um die Fäden im Hintergrund in der Hand zu halten und zusammenzuführen. Aber das will ihr nicht immer gelingen. Alles in allem eine vertrackte Situation, die ausweglos scheint und in der Einzelschicksale zur Unwichtigkeit verblassen.
Teil 1: März 1194 – Juli 1194
Frankreich, eine Festung an der Mayenne, März 1194
»Du wirst tun, was man dir sagt!« Mit einem erschrockenen Aufschrei flog Jeanne de Maines feingliedrige Hand zu der Stelle auf ihrer Wange, an der sich bereits ein rotes Mal abzuzeichnen begann. Ihre weit aufgerissenen, leuchtend grünen Augen starrten ihren Vater – der beinahe schuldbewusst den eben noch erhobenen Arm sinken ließ – ungläubig an. Keuchend holte sie Luft. Während ihre vor Empörung leicht geschürzten Lippen sich langsam schlossen, wanderte ihr Blick von dem heftig atmenden Grafen de Maine zu seiner verängstigt in den Hintergrund des Gemaches zurückgewichenen, wenig reizvollen Gemahlin, die hastig die nur dünn bewimperten Lider senkte. Durch die kleinen Fensterschlitze fiel das Licht der schwachen Märzsonne auf den von Steinquadern symmetrisch unterteilten Boden, wo es Unebenheiten und Scharten plastisch hervorhob. Das heitere Trällern einer Drossel drang an das Ohr des erstarrten Mädchens. Doch als der zierliche Vogel – von einer schimpfenden Elster verscheucht – die Schwingen spreizte und seinen Platz auf dem Ast einer Birke verließ, fiel die Lähmung von Jeanne ab und sie wandte sich an die auf eine der Sitztruhen gesunkene Frauengestalt.
»Mutter«, flehte sie tonlos und trat auf die Gräfin zu. Diese wirkte selbst in dem kostbaren, tiefrot gefärbten Bliaud , das trotz der Kälte im Inneren des normannischen Donjons die Schultern freiließ, grau und unscheinbar. Der altmodische Wimpel – eine eng gebundene Haube – ließ die spitzen Züge der bleichen Frau noch schärfer erscheinen. Ein Eindruck, der unterstrichen wurde, als sie in dem fruchtlosen Versuch, vor ihrer Tochter zurückzuweichen, die Schultern einzog und die Hände auf die erschlaffte Brust presste. »Das könnt Ihr mir nicht antun!« Jeannes Stimme hatte einen verzweifelten Unterton angenommen. »Er ist uralt!« Allein der Gedanke daran, den ungepflegten, meist betrunkenen Grafen, dessen strähniges Haar nach altem Tran stank, in ihre Nähe zu lassen, verursachte dem vierzehnjährigen Mädchen würgende Übelkeit. Zwar hatte sie den Herrn über die Grafschaft Touraine, die an das Gebiet ihres Vaters angrenzte, erst zwei Mal zu Gesicht bekommen. Aber der Eindruck, den sie bei diesen Begegnungen von dem ungeschliffenen französischen Adeligen gewonnen hatte, reichte aus, um ihr die Galle in die Kehle steigen zu lassen. »Bitte!« Ohne auf das wütende Einatmen ihres Vaters zu achten, ergriff sie den von einem weiten Ärmel bedeckten Oberarm der schmalen Gestalt und schüttelte diesen leicht.
»Ich kann nichts dagegen tun, mein Kind«, seufzte die Angesprochene nach einem langen, schwer im Raum lastenden Augenblick der Stille schließlich. »Dein Vater sieht darin die einzige Möglichkeit, unser Gebiet vor den Übergriffen des englischen Königs zu schützen.« Verwirrt zog Jeanne die rotbraunen Brauen zusammen. »Aber er ist doch gerade erst aus der Haft in Deutschland entlassen worden.« Obschon es für eine Frau eigentlich nicht schicklich war, hatte Jeanne schon früh reges Interesse an Politik und Diplomatie gezeigt; was ihr bisher sanfter und verständnisvoller Vater auch ohne Einwände toleriert und ihr sogar einen weitgereisten Lehrer ins Haus geholt hatte. Doch dieser Zustand schien sich beinahe über Nacht geändert zu haben. »Das hat dich nicht zu interessieren!«, fauchte er und zog sie mit hartem Griff von seiner Gemahlin fort. »Unser oberster Lehnsherr ist Philipp von Frankreich!« Sein von feinen, roten Äderchen durchzogenes Gesicht nahm einen unnachgiebigen Zug an, als er mit dem Zeigefinger auf eine Miniatur des französischen Königs einstach. Diese zeigte Philipp von Frankreich in
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