Im Reich der Löwin
aufgeregt über den bevorstehenden Feldzug gegen John Lacklands Anhänger unterhielten. Der Bruder des Königs hatte Richard nach dessen Gefangennahme für tot erklären lassen und dann kurzerhand die Macht über England an sich gerissen. Kaum war die Nachricht von der Freilassung des englischen Löwen über den Kanal geschwappt, war er jedoch in aller Hast in die Normandie geflohen, wo er sich wie ein feiges Waschweib vor dem Zorn des Königs verbarg. »Gott wird ihm nicht helfen können, wenn Richard ihn in die Hände bekommt«, munkelte ein graubärtiger Adeliger grimmig, als Roland mit einem respektvollen Nicken an ihm vorbei auf den Tisch zusteuerte, an dem seine Mutter mit einer blonden Dame in ein Gespräch vertieft war. »Er wird ihn zerfetzen wie ein hilfloses Lamm!« Das waren die letzten Worte, die Roland vernahm, bevor sich Alys von Frankreich ihm mit einer hochgezogenen Braue zuwandte und vorwurfsvoll fragte: »Wo ist dein Bruder?« Als Roland sich aus der Verneigung erhoben hatte, ließ er sich auf den Stuhl neben ihr sinken und trank einige Augenblicke die ungewohnten Eindrücke, die sich seinem Auge von diesem Standpunkt aus darboten. Für gewöhnlich teilten Henry und er sich die Plätze mit den Pagen, Knappen und jungen Kirchenmännern. Doch am heutigen Abend war es Ihnen aufgrund des feierlichen Abschieds gestattet, an der erhöht stehenden Tafel des Erzbischofs zu speisen.
»Er wollte sich nur noch die Hände waschen«, log Roland, ohne rot zu werden, während er mit einer Mischung aus Wehmut und Stolz die Erscheinung seiner schönen Mutter in sich aufsog. Trotz ihrer vierunddreißig Jahre zeigte ihr dunkelbraunes Haar noch keinerlei Spuren von Grau. Und auch die von dichten Wimpern beschatteten Augen strahlten noch in einem samtigen Braun, das den Betrachter über die wenigen, winzigen Falten an ihrer Schläfe hinwegblicken ließ. Ob er sie jemals wiedersehen würde?, durchzuckte es den Knaben. Aber bevor er den beängstigenden Gedanken weiter verfolgen konnte, drückte sich Henry – eine Entschuldigung nuschelnd – auf den Platz neben ihm, während der dünne Ton einer Glocke die Ankunft des Erzbischofs Geoffrey of York verkündete. Nachdem die Anwesenden wieder Platz genommen hatten, hielt dieser eine kurze, seinen König preisende Rede und eröffnete das Bankett. Kurz darauf wandte er sich mit einem schiefen Lächeln an Roland, der bescheiden die Lider senkte. »Ich weiß, dass du es nicht hören willst«, brummte der Erzbischof, während er sich mit dem Handrücken über den Mund wischte. Kauend betrachtete er seinen Halbbruder einige Atemzüge lang. »Aber du solltest dich vor Richard in Acht nehmen«, warnte er mit einem Seitenblick auf Alys von Frankreich, der die Sorge um ihre Sprösslinge deutlich ins Gesicht geschrieben stand. »Gib ihm niemals Grund, zornig zu werden«, fuhr Geoffrey undeutlich fort – ein fettes Stück Hühnerbein zwischen den makellosen Zahnreihen. »Denn dann wird er unberechenbar.«
Bemüht, die Bedrückung, die ihm diese wiederholten Warnungen und Ermahnungen bereiteten, nicht zu zeigen, nickte Roland schweigend und schob ebenfalls einen Bissen des köstlichen Bratens in den Mund. Hoffentlich gelang es ihm, das eigene Temperament zu zügeln, dachte er bang und spülte das würzige Stückchen Fleisch mit einem Schluck Met hinunter. Denn ebenso wie Richard Löwenherz gelang es auch ihm nicht immer, seinen Zorn im Zaum zu halten und nur das zu tun, was in Anbetracht der Lage klug und umsichtig war. Er spürte einen Stein im Magen, als er an die vielen Züchtigungen zurückdachte, die er als halbwüchsiger Knabe vom bischöflichen Waffenmeister hatte einstecken müssen. Denn auch dieser hatte es nicht geschätzt, wenn man ihm widersprach. Mit einem gezwungenen Lächeln überspielte er die Bangigkeit. »Und denkt daran, immer höflich und zuvorkommend zu sein«, fiel Rolands Mutter in die Predigt mit ein. Mit einem innerlichen Stöhnen senkte der Knabe den Kopf tiefer über den Teller und warf seinem Bruder, der es ihm nachtat, einen verschwörerischen Blick durch den schützenden Vorhang seines schwarzen Haares zu.
Nordfrankreich, eine stark befestigte Burg an der Küste, März 1194
Ein stürmischer Ostwind, der von der aufgewühlten See her ins Land fegte, zerzauste den nur von einer dünnen Coiffe bedeckten Schopf John Lacklands, dessen weiches Kinn kaum wahrnehmbar bebte. Mit einer Mischung aus Versonnenheit, Wehmut und brodelnder Unzufriedenheit
Weitere Kostenlose Bücher