Im Reich der Löwin
sorgen, dass die donnernden Hufe des Tieres den schlammigen Weg nicht verließen. Die Frühlingssonne hatte bereits so viel Kraft, dass Roland das Prickeln eines beginnenden Sonnenbrandes auf dem Nasenrücken spürte, das trotz energischen Nasekräuselns nicht nachlassen wollte. Überall um die jungen Reiter herum erstrahlten Bäume, Wiesen und Büsche in farbiger Blütenpracht. Und obgleich der Winter in diesem Jahr strenger gewesen war als die Jahre zuvor, bahnte sich das Leben unaufhaltsam seinen Weg. Aufgeschreckt vom Lärm der galoppierenden Pferde huschte ein Jungfuchs über den Pfad, um sich im Dickicht des angrenzenden Waldes zu verbergen und mit einem leisen Jaulen seine Geschwister zu warnen. Roland würde die sanften Hügel der Gegend um York vermissen! Als zweitwichtigste Stadt Englands und als Zentrum des Wollhandels war die alte Wikingersiedlung inzwischen zu einer mächtigen, von einer über vier Meilen langen Stadtmauer umgebenen Metropole angewachsen. Nicht nur die Reichen zogen Nutzen aus der blühenden Wirtschaftslage. Mit einem übermütigen Ausruf duckte sich der Knabe über den Hals seines Reittiers und trieb es zu einer halsbrecherischen Jagd über eine aufgeweichte Wiese an, hinter deren Eingrenzung das westliche Stadttor aufragte. Als die beiden Brüder nach nur wenigen Minuten scharfen Rittes das Kopfsteinpflaster der Straßen Yorks unter den Hufen spürten, schoben sich die ersten drohenden Vorboten eines Regenschauers vor die stechende Sonne und verdunkelten die ohnehin nicht besonders lichtdurchfluteten Gässchen des Marktviertels. Links und rechts von ihnen ragten die mächtigen Lager der wohlhabenden Tuchhändler auf. Die Knaben umrundeten eine scheinbar nicht enden wollende Anzahl von Häuserecken, bis sich plötzlich ein weiter Platz vor ihnen öffnete und den Blick auf das imposante Münster freigab. Im Schatten des prachtvollen Holzbaus zeichneten sich die zackigen Umrisse des bischöflichen Wohnsitzes ab. Während Roland seinen schweißnassen Wallach absattelte und trocken rieb, dachte er wehmütig daran, dass sie an diesem Abend zum letzten Mal in der prunkvollen Halle des Palastes speisen würden.
Nachdem die Tiere versorgt und Sättel und Zaumzeuge in der Sattelkammer verstaut waren, dirigierte Roland den jüngeren Bruder über den von Adeligen und Kirchenmännern bevölkerten Hof, um sich vor dem Abschiedsmahl die Hände zu waschen und ein feineres Gewand anzulegen. Bei dem Gedanken an die scheltenden Worte seiner Mutter – sollte er in dem schmutzverkrusteten Surkot , das er bei Ausritten zu tragen pflegte, bei Tisch erscheinen – huschte ein flegelhafter Ausdruck über sein Gesicht. »Du solltest besser deine Stiefel putzen«, ermahnte er Henry. Dieser hatte wie immer die Schritte verlangsamt, als sie die Tür der kleinen Privatkapelle passierten, um die geschnitzten Figuren zu bestaunen, die sich in einem Gewirr aus Leibern und Gliedmaßen in einem höllischen Inferno wanden. »Ja, ja«, murmelte Henry und ließ bewundernd die Fingerkuppen über einen besonders plastisch gearbeiteten Dämon gleiten, dessen Fangzähne sich in den Oberkörper eines nackten Mannes bohrten. »Geh du schon vor«, schlug er vor. »Ich komme dann nach.« Kopfschüttelnd ließ Roland den Knaben mit seinen Betrachtungen allein, eilte unter Verneigungen und artigen Begrüßungen über den Hof und erklomm die Stufen in den zweiten Stock, wo er sich eine beengte Eckkammer mit seinem Bruder teilte. Mit vor Vorfreude hämmerndem Herzen riss er sich die verschwitzten Kleider vom Körper, tauchte die Hände in eine halb volle Schale und säuberte sich gerade so gründlich, dass er vor den Augen seiner Mutter bestehen würde.
Wenn sie doch nur schon auf dem Weg nach Nottingham wären!, dachte er ungeduldig und fuhr sich mit drei Fingern durch die Haare, um den wilden, pechschwarzen Schopf zu bändigen. Und wenn Richard Löwenherz ihn doch nur schon als Knappen in seine Dienste aufgenommen hätte! Leise brummend warf er sich die vom Erzbischof geforderte Kopfbedeckung über und schnürte seine Schuhe, die er in weiser Voraussicht bereits am Vortag auf Hochglanz poliert hatte. Mit einem letzten Blick auf die beiden kleinen Truhen, die Henrys und seine Habe enthielten, stieß er die Tür auf und machte sich auf den Weg in die Halle, um an dem zu Ehren des abwesenden Königs gegebenen Bankett teilzunehmen. Als er die Tür durchschritt, schlug ihm bereits das Stimmengewirr der Gäste entgegen, die sich
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