Im Reich der Löwin
gerade auf den Weg in die Halle machen, um ihren Vater anzuflehen, sein Vorhaben zu überdenken, als ein schüchternes Klopfen an ihrer Tür sie herumwirbeln ließ. »Wer ist da?«, fragte sie misstrauisch, da es in der Vergangenheit mehr als einmal vorgekommen war, dass sich einer der raubeinigen Wachmänner in den ersten Stock der Festung verirrt hatte. »Ich bin es.« Obwohl die Stimme durch das dicke Holz gedämpft wurde, benötigte Jeanne keine zwei Wimpernschläge, um auf die Tür zuzueilen, den schweren Riegel zurückzuschieben und die Gestalt davor einzulassen. »Mutter!«, rief sie erstaunt aus, verstummte jedoch augenblicklich, als die Gräfin sich nach einem verstohlenen Blick den Korridor entlang mit dem Rücken gegen das Holz presste und schwer atmend den Schleier hob. »Mein Gott!«, hauchte Jeanne, als sie die Platzwunde unter dem bereits in allen Farben schillernden Auge ihrer Mutter erblickte. »Wer ...?« Mit einer ungeduldigen Handbewegung schnitt die Gräfin ihr das Wort ab und fuhr sich über die bleiche Stirn. »Dein Vater«, stellte sie bitter fest, griff nach Jeannes Hand und zog sie an eines der kleinen Fenster, um den Blick ihrer Tochter den ausgestreckten Arm entlang auf die den Donjon umgebende Ringmauer zu lenken. »Er lässt Wachen aufstellen.« Ihre Stimme hatte einen heiseren Unterton angenommen. »Ich habe den Fehler gemacht, ihn umstimmen zu wollen, nachdem du fort warst«, murmelte sie und ließ sich von Jeanne auf einen der beiden Schemel zuführen, welche vor der erkalteten Feuerstelle standen. »Aber in dieser Angelegenheit bin ich vollkommen machtlos.«
Mechanisch wanderte ihre Linke zu der Schwellung ihres Jochbeines, um diese vorsichtig zu betasten. Ihre für gewöhnlich klaren, hellgrauen Augen füllten sich mit Tränen, als sie die Stelle nahe ihrer Nase erreichte, von der sich ein dünner Blutfaden bis hin zu der schmalen Oberlippe zog, wo er sich in den Falten um ihren Mund vervielfachte. »Wie kann er nur so unnachgiebig sein?«, flüsterte Jeanne, die neben der seufzenden Isabel de Maine in die Knie gegangen war, um eine der vom Winter rissigen Hände in die ihre zu nehmen und an die Lippen zu führen. »Empfindet er denn gar nichts für uns?« Schon öfter hatte sie sich gefragt, wie sie jemals hatte annehmen können, dass der Graf de Maine ihre Mutter einem Befehl des Herzens folgend zur Frau genommen hatte. Sie seufzte leise und schalt sich eine Närrin, die sich von Minneliedern in die Irre führen ließ. Schließlich ließen sich aus dem Umgang der beiden Eheleute miteinander allenfalls Gleichgültigkeit und kühle Höflichkeit ablesen. Schon als Kind waren Jeanne die Blicke nicht entgangen, mit denen ihr Vater die meist blutjungen Dienstmägde bedachte, deren üppige, volle Rundungen der nicht vorhandenen Weiblichkeit ihrer Mutter zu spotten schienen. Doch bisher war er gegenüber der in sich gekehrten, zurückhaltenden Isabel, die ihm in abgöttischer Liebe ergeben war , noch niemals handgreiflich geworden. Resigniert schüttelte die Gräfin den Kopf. »Für mich empfindet er schon lange nichts mehr«, gestand sie mit bebender Stimme. »Und obwohl ich weiß, wie viel du ihm bedeutest«, setzte sie hinzu, als Jeanne ihr ins Wort fallen wollte, »scheint die Bedrohung durch den englischen König sein Herz verhärtet zu haben.«
England, York, 15. März 1194
Versonnen die Stirn runzelnd blickte der fünfzehnjährige Roland Plantagenet seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Henry an, dessen Blick neugierig auf ihm lag. »Natürlich bin ich auch aufgeregt«, gestand er widerstrebend ein, während er mit geschickten Handgriffen den Sattelgurt seines Wallachs festzurrte und die sorgsam in Öltuch eingeschlagenen, frisch gefischten Forellen mit einer Schnur um den Sattelknauf schlang. Sein bereits sonnengebräuntes Gesicht war vom Herumtollen der letzten Stunde gerötet. Nachdem die beiden Knaben sich die Beine im schnell fließenden, eiskalten Wasser des kleinen Bächleins gekühlt hatten, hatten sie schließlich beschlossen, den Fang in der Küche des bischöflichen Palastes abzuliefern und die letzten Vorbereitungen für ihren bevorstehenden Aufbruch zu treffen. Gleich nach Sonnenaufgang des nächsten Tages würden sie von ihrer Mutter, Alys von Frankreich, Abschied nehmen, um ihren Halbbruder Geoffrey, den Erzbischof von York, nach Nottingham zu begleiten. Dort hatte eine gewaltige Armee bereits mit der Belagerung der letzten Festungen begonnen, die noch dem
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