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Im Reich der Löwin

Im Reich der Löwin

Titel: Im Reich der Löwin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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der Erinnerung an den Liebesakt mit dem unglaublich leidenschaftlichen König zeigte, griff er sich in den Schritt und zwang sich, an etwas anderes zu denken.
    Mit einer steilen Falte zwischen den Brauen hob er den immer noch unvollendeten Bericht über die vor drei Wochen stattgefundene Krönung in Winchester Cathedral auf und ließ den Blick über die mageren zwei Absätze gleiten, die er seitdem zustande gebracht hatte. Da es ihm in seinem verletzten Stolz unmöglich gewesen war, einen objektiven Bericht über das Ereignis zu verfassen, hatte er sich mehr oder weniger darauf beschränkt, die architektonischen Besonderheiten der von Wilhelm dem Eroberer erbauten Kathedrale zu beschreiben; die Breite und Wuchtigkeit des Baus mit der Höhe und Leichtigkeit des großartigen Gewölbes zu kontrastieren. Allerdings wusste er selbst, dass Richard Löwenherz ihm dieses Schriftstück niemals abnehmen würde. Und wenn er dem Chronisten nicht vor lauter Scham aus dem Weg ging – was nicht zu vermuten war – dann würde Devizes früher oder später etwas mehr zustande bringen müssen als dieses armselige Skelett einer Lobeshymne auf die normannischen Herrscher Englands. Während draußen der Wind mit einem unheimlichen Heulen durch die engen Gassen der Zeltstadt pfiff, zog er widerstrebend den Federkiel aus dem halb verfaulten Apfel, tauchte ihn in die Tinte und setzte ihn auf das kostbare französische Papier.
     
    »In einer feierlichen Prozession hielt der großartige Herrscher, Richard Löwenherz, Einzug in die Kathedrale. Drei Schwerter wurden dem in kostbare Gewänder gekleideten König vorangetragen. Die Macht unseres von Gott gesalbten Herrn wurde dadurch unterstrichen, dass der König von Schottland als einer der Schwertträger fungierte.«
     
    »Was für ein Mist!«, fluchte er, zerknüllte das soeben Geschriebene und pfefferte es wütend in die ersterbenden Flammen. Mit brennenden Augen stützte er den schweren Kopf in die Hände und beobachtete, wie das Feuer die Worte verzehrte. Während er mit sich rang, ob er trotz der Leere in seinem Inneren einen weiteren Versuch unternehmen sollte, das Werk zu vollenden, tobte in dem der Steilküste am nächsten gelegenen Teil des Lagers ein Unwetter, das den aufgewühlten Elementen in nichts nachstand.
     
    ****
     
    »Wenn dieser Sturm nicht bis morgen abflaut, setzen wir Segel, komme was wolle!«, schimpfte der aufgebracht in seinem Pavillon auf und ab stampfende Löwenherz ungehalten und warf einen zornigen Blick in die Runde seiner Berater, die schweigend auf ein Ende des Donnerwetters warteten. Nur unter mühsamer Aufbietung all seiner Selbstbeherrschung konnte sich Roland, der trotz des wärmenden Feuers in der Mitte des prächtigen Zeltes heftig fröstelte, eine Grimasse verkneifen, während er – ebenso wie die anderen Knappen – für das leibliche Wohl seines Dienstherrn sorgte. Behutsam hievte er ein prächtiges Stück Rehkeule auf den goldenen Teller des Königs, das dieser jedoch ebenso ignorierte wie all die anderen Köstlichkeiten zuvor. Um die lange, auf zusammenlegbaren Stützen aufgebockte Tafel saß etwa ein halbes Dutzend der ältesten, waffenerprobtesten Männer des erzürnten Engländers, die seit dem frühen Morgen über eine Strategie stritten. Zur Rechten Richards thronte dessen Mutter, die trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre ein erstaunliches Durchsetzungsvermögen an den Tag legen konnte, wenn es um Angelegenheiten des Königreiches ging. Ihr Haar war unter einem strengen Gebende verborgen, das ihre hohe Stirn und die klaren, dunkelgrünen Augen hervorhob, die im Moment beunruhigt auf ihrem Sohn lagen. Ein extravagantes Reisegewand ließ die unnatürlich weiße Haut ihres Ausschnitts frei, den ein beinahe taubeneigroßer Smaragd zierte. In einer ihrer gichtgeröteten Hände hielt sie die soeben eingetroffene Nachricht des Prinzen John, welche der vermummte Reiter, den Henry und Roland am Vorabend der Krönung in Winchester hatten aufbrechen sehen, ihr überbracht hatte.
    »Es kann doch nicht so schwer sein, die Normandie zu erreichen«, zeterte Richard weiter. »Immerhin haben unsere Vorfahren es oft genug zustande gebracht!« Mit einem wütenden Grunzen ließ er sich auf den harten Sitz seines Stuhls fallen und griff nach einem Stück Brot. Wenn Roland an den überhasteten und missglückten Versuch, nach Frankreich überzusetzen, zurückdachte, zog sich sein Zwerchfell immer noch schmerzhaft zusammen. Entgegen allen Warnungen der erfahrenen

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