Im Reich der Löwin
die Düsternis zu lauschen, bevor sie in eine der Boxen schlüpfte und den Kopf des Tieres tätschelte, das sich vertrauensvoll an ihre Schulter schmiegte. Wenn das schwache Fundament, auf das sie ihren Plan gebaut hatte, nicht zusammenbrach, trennten sie lediglich noch die Außenmauern von der Freiheit. Mit geübten Bewegungen schob sie die Trense zwischen die Zähne der Stute und griff nach dem herabhängenden Zügel.
Vor Aufregung zitternd setzte sie den Fuß in den Steigbügel, zog sich in den Sattel und rutschte in der ungewohnten Sitzposition so lange hin und her, bis sie das Gefühl hatte, wie ein Mann auf dem Rücken des Tieres zu thronen. Zaghaft grub sie die Fersen in die Flanken des kleinen, schmutziggrauen Tieres, das mit einem leisen Wiehern den Kopf zurückwarf, und lenkte es die schmale Sattelgasse entlang auf die Stallpforte zu. Sie musste lediglich Ruhe bewahren!, hämmerte sich die junge Frau ein. Dann würde niemand Verdacht schöpfen. Während die Hufe ihres Reittieres über das Kopfsteinpflaster klapperten, bemühte sie sich, ihr Gesicht im Schatten der übergeworfenen Kapuze zu verbergen und keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aus dem Augenwinkel verfolgte sie, wie sie nach und nach die Schießscharten passierte, den oberen Torweg durchschritt und in den Schatten der hoch über ihr aufragenden Mauern der äußeren Vorburg eintauchte. »Halt!« Der Schreck, der ihr bei diesem Befehl in die Glieder fuhr, hätte sie beinahe einen spitzen Schrei ausstoßen lassen. Doch bevor sich der Wachhabende in dem Häuschen neben dem Haupttor erheben konnte, um sie nach ihrem Ziel zu fragen, zog ihn sein Kollege mit einem Kopfschütteln auf den groben Schemel zurück und bellte: »Das ist doch der Müllersbursche, du Esel. Kannst du dir denn gar nichts merken?!« Mit einer abfälligen Handbewegung gab er Jeanne zu verstehen, das Tor zu passieren, und während die dicken Bohlen der Zugbrücke unter dem Bauch ihrer Stute auftauchten, stieß das Mädchen den angehaltenen Atem aus den Lungen. Was für ein unglaubliches Glück! Nur unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung hielt sie sich davon ab, ihrem Ross die Sporen zu geben und in überstürzter Hast davonzugaloppieren. Und dennoch: Wenn der Junge, mit dem sie der Wächter offensichtlich verwechselt hatte, ebenfalls die Festung verlassen wollte, würde ihre Flucht zweifelsohne entdeckt werden. Nach einem verstohlenen Blick über die linke Schulter tätschelte sie der Stute den Hals und schnalzte mit der Zunge, um sie zum Antraben zu bewegen.
In der Nähe von Verneuil, 11. Mai 1194
Im selben Moment, in dem Jeanne in die engen Gässchen der Hauptstadt der Touraine eintauchte, um vor ihrem Gemahl zu fliehen, setzte in der Nähe der Festung Verneuil, die auch Arnauld bald erreichen würde, der im Dienste des englischen Königs stehende General Mercadier eine Klinge an die Kehle eines wimmernden Mädchens. »Wann ist er hier durchgekommen?« Ohne mit der Wimper zu zucken, verstärkte er den Druck auf den Kiefer der jungen Frau, die hilflos in seinen Pranken zappelte. Beinahe genüsslich fügte er dem tiefen Schnitt, der ihre linke Wange bereits vom Ohr bis zur Nasenspitze entstellte, einen weiteren hinzu, sodass hellrotes Blut den weißen Ärmel seines Surkots tränkte. »Ich weiß es nicht«, beteuerte die Bauernmagd, deren Augen vor Furcht getrübt waren. »Ich war den ganzen Tag im Wald beim Schweinehüten.« Ein freudloses Lachen teilte die schmalen, von einem kurzen, schwarzen Bart umrahmten Lippen, und die dunklen Augen des Ritters verengten sich merklich. Offensichtlich bedurfte es eines größeren Anreizes, damit das verlogene Drecksstück die Wahrheit sagte! Mit einem kurzen Kopfnicken bedeutete er seinen Männern, einen Kreis um ihn zu bilden, schleuderte das Mädchen von sich, sodass es wie ein Sack Mehl zu Boden fiel, und spannte in einem scheinbar beiläufigen Ausstrecken der Arme die mächtigen Brustmuskeln.
»Ich frage dich jetzt das allerletzte Mal«, flüsterte er der Magd ins Ohr, nachdem er sich dicht neben sie gekniet hatte. »Wann ist Philipp von Frankreich mit seiner Streitmacht hier durchgekommen?« Die scharfen Falten um seinen grausamen Mund schienen sich bei dieser Frage noch tiefer in die sonnengebräunte Haut zu graben. Im Hintergrund vermischte sich das Geschrei der übrigen Bewohner des ärmlichen Dorfes mit dem wütenden Gekläffe der Hunde, die tatenlos dabei zusehen mussten, wie ihre Besitzer von den Kriegern
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