Im Reich der Löwin
mehr als nur angeheiterte Graf de Touraine ihr mit einem anzüglichen Augenzwinkern ins Ohr. »Geh nur schon vor, ich komme gleich nach.« Nachdem sie sich mit einem Nicken in die ausgedünnte Runde von den letzten hartnäckigen Hochzeitsgästen verabschiedet hatte, schob Jeanne ihren schweren Stuhl zurück und machte sich auf den Weg in das Schlafgemach, das sie vom heutigen Tag an mit ihrem Gatten teilen würde. Den Gedanken an das, was unvermeidlich noch in dieser Nacht geschehen würde, verdrängend, ließ sie sich schwer auf den Schemel vor ihrem polierten Silberspiegel fallen und begann, die Klammern und Nadeln aus den Locken zu ziehen. Nachdem sie das ockerfarbene Bliaud mit einem blütenweißen Nachtgewand vertauscht hatte, bat sie die Zofe, das Feuer noch ein letztes Mal zu schüren, bevor sie sich erschöpft in die weichen Kissen fallen ließ.
Als sie drei Stunden später mit einem erschrockenen Aufschrei aus dem bleischweren Schlaf fuhr, kicherte der inzwischen vollkommen betrunkene Arnauld heiser, während er – mit der Schnürung seiner Cotte kämpfend – schwankend vor dem breiten Himmelbett stand und lüstern auf sie hinabstarrte. »Nur noch einen Moment«, murmelte er verschwommen, gab den Kampf auf und riss sich das Kleidungsstück ungeduldig über den Kopf. Augenblicklich war die Müdigkeit des Mädchens wie weggewischt, und sie verfolgte seine unkoordinierten Bewegungen mit erschrocken aufgerissenen Augen. Da er nur ein dünnes Untergewand trug, konnte Jeanne im Licht des ersterbenden Feuers und der Kerze, die er mitgebracht hatte, das dichte, schwarze Haar erkennen, das sich von seiner Brust über den fetten Bauch bis hinunter zu seiner Scham drahtig kräuselte. Sie schluckte. Zwar hatte ihre Mutter sie in einem für beide Seiten peinlichen Gespräch auf das vorbereitet, was sie in ihrer Hochzeitsnacht erwarten würde. Aber das, was sich ihrem entsetzten Blick darbot, als es Arnauld schließlich gelang, sich auch von den letzten störenden Stoffschichten zu befreien, raubte ihr im wahrsten Sinne des Wortes den Atem. Zwischen lächerlich dünnen Oberschenkeln hing seine schlaffe Männlichkeit herab, und über dem zum Platzen gespannten Bauch prangten zwei faltige Brüste, deren große Brustwarzen mit silbrig-grauen Haaren bedeckt waren. Mit einem mühsam unterdrückten Rülpser ließ sich der Graf auf die Bettkante fallen, fluchte leise, als es ihm nicht gleich gelang, den Eingang in die verschlungenen Laken zu finden und wälzte sich ohne weitere Vorreden auf seine vor Abscheu erstarrte Gemahlin. Ungeschickt fummelten seine Wurstfinger ihren Rücken entlang zu den straffen Hinterbacken, wo sie staunend verharrten. Den Kopf in die Kissen gedrückt, um dem fauligen Atem ihres Gatten auszuweichen, harrte Jeanne mit hämmerndem Herzen auf das, was nun kommen würde. Doch bevor sie sich in Gedanken an einen weit entfernten Ort zurückziehen konnte, entrang sich Arnaulds Kehle ein Schnarchen, und sein Griff erschlaffte.
Nordfrankreich, eine stark befestigte Burg an der Küste, 2. Mai 1194
Zur gleichen Zeit lag John Lackland, der einhundertfünfzig Meilen weiter nördlich in seiner Festung aufgebracht nach Luft rang, nichts ferner als Schlaf. »Das kann sie nicht von mir verlangen!«, tobte der vor Wut kreideweiße Bruder des englischen Königs. »Das ist …« Seine Stimme erstarb. Wortlos reichte er dem verschreckt in den Hintergrund zurückgewichenen Guillaume of Huntingdon die Nachricht, die ihn so aus der Fassung gebracht hatte. Vor wenigen Minuten hatte sich der Bote aus England auf den Rückweg gemacht, um seiner Auftraggeberin – Aliénor von Aquitanien – die Botschaft zu übermitteln, dass ihr jüngster Sohn über ihren Vorschlag nachdenken wollte. Solange der in seinen Augen unverschämte Ritter der Königin anwesend war, hatte John das Gesicht gewahrt und die Pergamentrolle scheinbar gleichgültig überflogen. Doch jetzt, da er mit seinem Vertrauten alleine war, trat er einem der vor dem Kamin dösenden Jagdhunde wütend in die Rippen, was das Tier dazu veranlasste, mit einem empörten Jaulen den Schwanz einzuziehen und sich unter einer der Bänke zu verkriechen. Mit zitternden Fingern nahm der untersetzte Guillaume die vom Regen leicht aufgeweichte Nachricht entgegen und ließ den Blick über die eng geschriebenen Worte wandern.
»Mein Sohn,
ich habe nicht viel Zeit, um dir diese Zeilen zu schreiben, denn dein Bruder, Richard von England, drängt zum Aufbruch.
Die
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